Else Buschheuer: "Masserberg"


Windstille im Auge des Orkans

In "Masserberg" erscheint ein jugendlicher Körper im trüben Umfeld einer DDR-Klinik schillernd und begehrenswert wie eine Gestalt aus einer anderen Welt. Aus der Perspektive der Rückschau, (die eine entbehrliche Rahmenhandlung bedingt bzw. mitschleift), wird eine deutsche Geschichte von Liebe und Leid voller Gefühl und Witz erzählt; eine schicksalhafte Arzt-Patientin-Stasi-Liebesgeschichte, garniert mit einer Menge verschüttet geglaubter Jugend-Empfindungen.
Else Buschheuer beschreibt ein langsam verschwindendes Ostdeutschland mit seinen sprachlichen Besonderheiten, Ritualen und Systemen im isolierten Biotop der, im Gegensatz zum Sozialismus real existierenden, Augenheilanstalt Masserberg, dicht, präzise und mitunter beunruhigend direkt. (Kleine Kostprobe gefällig? ..."Sie zuckte mit keiner Wimper, nicht mal, als sie erfuhr, dass die feinen, dünnen Einweg-West-Kanülen ausgegangen waren. Die heimischen Fabrikate waren wiederverwendbar und dick wie Kuliminen. Als das stumpfe Ding sich brutal seinen Weg durch die Haut bahnte, sie erst dehnte und dann zerriss, beschränkte sich Mel darauf, die Zähne zu fletschen wie ein schreckliches Tier. Sie sah während des Spritzvorgangs das verschwimmende Draußen durch den sich von der Flüssigkeit aufblasenden Bindehautsack..." )

Zurückgeblickt wird auf die DDR des, von manchen auch jetzt noch so bezeichneten "Orwell"-Jahres 1984, und das keineswegs "blauäugig".

Melanie Tauber (genannt Mel, bisweilen in Melancholie badend) ist siebzehn Jahre alt und sehr krank, als sie nach Masserberg verbannt wird. In dem kleinen Ort auf dem Lerchenberg mitten in Thüringen befindet sich eine Augenklinik, in der sie geheilt werden soll.

Dem Prozess der Deindividualisierung, der Reduzierung auf die Anonymität der zu behandelnden Erkrankung, (gelungen dargestellt in der Szene, als ein Arzt in ihr nur die Krankheit sieht: "Die Iridozyklitis saß nun sehr aufrecht und schloss das Auge. ... Die Iridozyklitis atmete tief ein und aus. ... Erstaunt musste er feststellen: Die Iridozyklitis war ein Mensch. Schlimmer noch: Eine Frau."), widersetzt sich Mel mit allen Mitteln; ihr Arsenal im Kampf gegen die schleichende Resignation und den Verlust des Zeitgefühls an diesem "Unort" beinhaltet neben bitterem Humor und dem Hang zu dramatischen Auftritten Strapse, Miniröcke, falsche Fingernägel, bunte, selbst gemischte Nagellacke, Frechheit sowie obszöne Witze. Und Beruhigungstabletten, die sie heimlich hortet.
Was ist eine "Iridozyklitis"? Eine Begleiterkrankung der Regenbogenhautentzündung, die Entzündung des Strahlenkörpers (Ziliarkörpers), an den der hintere Teil der Iris grenzt. Nach häufig auftretender Iritis kann es zur Ausbildung eines grauen Stars kommen, bis zur Erblindung.

Mels Welt beginnt jenseits aller sozialistischer Parolen und deren realspießigen Begleitumständen. Sie ist anders, ungewöhnlich, eben bunt in jeder Hinsicht. Die Leidensgenossinnen, meist alte, in der Vergangenheit lebende Frauen, lieben die Siebzehnjährige für ihre Lebendigkeit und ihren unbändigen Eigensinn. Und Mel, die bei ihrer, mittlerweile verstorbenen, Großmutter ("Queen Mum") aufgewachsen ist, schätzt ihrerseits die Gesellschaft der schrulligen Damen.

Melanie Tauber bereitet sich in der Augenheilanstalt auf ihre Schauspielprüfung vor, schreibt zahlreiche Briefe an ihre Freunde, die, (meist vergeblich), um ihre Gunst buhlen, vertraut ihrem Tagebuch Geheimnisse und Wünsche an und träumt mehr von der "Republikflucht" als diese konkret vorzubereiten.

Der "nicht mal 40 Jahre alte", aus Kuba stammende, grünhäutige Arzt Carlo Sanchez, als IM Skalpell auch für die Stasi tätig, weil er sich seinerzeit auf einen Handel mit dieser Organisation einlassen musste, beinahe reglos in einer langjährigen, eintönigen Beziehung dahindämmernd, begehrt Mel, die Sex auch schon einmal als Kommunikationsform bezeichnet, wobei das Geschlecht der Zielperson bedeutungslos ist ... Sanchez' unscheinbare Freundin Tinka erleidet just in jener Nacht, in der er sich erstmals im Wald mit Mel den Freuden der körperlichen Liebe hingibt, eine Fehlgeburt.
Es kommt, wie es kommen muss: Die Siebzehnjährige erwartet ein Kind von ihrem mehr als doppelt so alten Liebhaber. Dieser wiederum leidet Höllenqualen, weil er zwischen Tinka und der jungen Geliebten hin und hergerissen ist und darüberhinaus die Stasi Informationen über Mels Aktivitäten und Erläuterungen über ihre Tagebucheintragungen aus ihm quetschen will.
Infolge der aufreibenden Umstände erleidet Carlo Sanchez einen Herzinfarkt. An seinem Krankenbett treffen Tinka und Mel aufeinander; Carlo stirbt wenig später, die verzweifelte Mel will ihrem Leben mithilfe der aufgesparten Beruhigungstabletten ein Ende setzen, doch der Selbstmordversuch endet seltsamerweise damit, dass sie der verräterischen Diebin ihres Tagesbuchs an den Kragen geht - als, buchstäblich in letzter Sekunde - ihre Freunde das Krankenzimmer betreten ...

So endet der Rückblick, man erfährt, dass Pit Mels und Carlos Sohn ist, dass die Freunde seinerzeit darum gewürfelt haben, wer Mel heiraten dürfe. Die "Verlierer" dienen ihr seitdem als Manager, als Kinderfrau, als Chauffeur. Sie selbst ist nach ihrer Ausreise eine berühmte Schauspielerin geworden, im Laufe der Jahre erblindet und kehrt nun mit ihrem Sohn und Ludwig, dem Chauffeur, an den Ort längst im Dunkel versunkener Erinnerungen zurück ...

Wie schon Else Buschheuers erster Roman "Ruf! Mich! An!" besticht auch "Masserberg" durch die, (bisweilen unverschämt) hautnahe, direkte Sprache.

(kre)


Else Buschheuer: "Masserberg"
Aufbau, 2010. 234 Seiten.
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Else Buschheuer wurde 1965 in Eilenburg bei Leipzig geboren; sie war Reporterin, TV-Moderatorin, Kolumnistin und Internettagebuchschreiberin.

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