Leseprobe:

(...)  In der letzten Nacht vor ihrer Hochzeit sollte Johanna auf Richilds Geheiß in dem kleinen Aufwärmzimmer schlafen, das an ihre eigene Schlafkammer angrenzte - ein Privileg, das für gewöhnlich nur kranken Kindern oder bevorzugten Bediensteten zuteil wurde. Es sei eine Geste der besonderen Ehrerbietung gegenüber der angehenden Ehefrau, wie Richild sich ausdrückte, doch Johanna war sicher, dass Richild sie auf diese Weise lediglich unter genauer Beobachtung halten wollte. Egal. Sobald Richild schlief, konnte Johanna genauso schnell aus diesem Zimmer schlüpfen wie aus dem Schlafraum.
   Ermentrude, eine der Dienerinnen, kam mit einem Holzbecher mit warmem, gewürztem Rotwein in das kleine Zimmer. "Von Gräfin Richild", sagte sie schlicht. "Euch zu Ehren, an diesem besonderen Abend."
   "Ich möchte es nicht." Johanna winkte ab. Von einem Feind nahm sie keine Gefälligkeiten entgegen.
   "Aber die Herrin hat mir befohlen, bei Euch zu bleiben, während Ihr den Wein trinkt, und dann den Becher in die Küche zu bringen." Ermentrude war ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen; denn sie war erst zwölf und neu in der gräflichen Dienerschaft.
   "Dann trink den Wein selbst", sagte Johanna gereizt. "Oder gieße ihn auf den Fussboden. Richild wird nie davon erfahren."
   Ermentrudes Miene hellte sich auf. Dieser Gedanke war ihr gar nicht gekommen. "Ja, Fräulein. Danke, Fräulein." Sie wandte sich zum Gehen.
   "Warte noch", rief Johanna ihr nach, denn sie hatte es sich doch anders überlegt. Der Becher war randvoll, und der Wein süß und schwer; er schimmerte im gedämpften Licht im Zimmer. Falls Johanna die nächsten zwei Wochen im Wald überleben wollte, musste sie jede Nahrung zu sich nehmen, die sie bekommen konnte, ob fest oder flüssig. Sie konnte sich keine närrischen Gesten des Stolzes leisten. Johanna nahm den Becher und trank den warmen Wein in hastigen Zügen. Um ihre Lippen herum bildete sich ein roter Rand, und der Wein hinterließ einen seltsam säuerlichen Geschmack auf der Zunge. Sie wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab; dann reichte sie Ermentrude den Becher, und das Mädchen verließ eilig das Zimmer. (...)


Aus:
Donna W. Cross: "Die Päpstin"
Historischer Roman. Aufbau Verlag, 1998.
ISBN 3-7466-1400-7
566 Seiten
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