Die Nacht sollte das Reich der
Unterschiedslosigkeit sein, der Zeitraum, in dem Gestalten und Rollen sich
auflösen, in die uns das Tageslicht zwängt. Die Dunkelheit sollte es uns
erlauben, kurz aus uns herauszutreten und die anderen außerhalb jener täglichen
Theatervorstellung zu treffen, in der jeder seinen vorgeschriebenen Part
hat.
Leider wurden auch diese Stunden verworrener Freiheit durch Zünfte erobert,
und so konnte es geschehen, dass man sich betrübt als Fremder in Lokalen wiederfindet,
die ausschließlich von selbstgefälligen Freiberuflern bevölkert sind oder von
abgerissenen Alternativen oder von ausgelassenen
Schwulen
oder von angehenden
Tangotänzern
oder von arbeitslosen Filmschaffenden. Jede Gruppe verfügt über ihre Örtlichkeiten,
die es eifersüchtig zu verteidigen gilt, so wie die
Pinguine ihre Eisschollen
und die Bienen den Bienenstock
verteidigen.
Aber zum Glück existieren doch noch Freihäfen, wo der Pinguin und die Biene
dicht nebeneinander trinken können. So etwa die Bar Castellino auf der Piazza
Venezia, die
immer offen hat, die aber besonders in der Nacht, gegen vier Uhr, fünf Uhr,
zum wahren Niemandsland wird, Insel des Tages danach und des Tages davor, ein
Meridian, überschritten von den vielen Parallelexistenzen, die unsere Stadt
durchkreuzen. Hier streben die Nachtschwärmer und die Einsamen zusammen, die,
die sich noch nicht schlafen legen wollen, die, die schon aufgestanden sind,
und die, die nie zu Bett gehen: Tabaksüchtige auf der verzweifelten Suche nach
Zigaretten, Studenten auf der Jagd nach der letzten Ausgabe von Zagor, Transsexuelle
und Straßenkehrer, die gerade Pause machen, Alte mit ihrem blasenschwachen Hund,
glitzernde Frauen und Herren im Smoking, auf der Heimkehr
von irgendeinem Fest,
Vagabunden, immer noch durstige Polen, exaltierte Mädchen, Japaner, die es in
ihrem Hotel nicht mehr ausgehalten haben, zerbrochene Herzen und
Liebespaare,
verlorene Seelen.
Die Bar Castellino bietet sich als vorübergehender Unterschlupf
für alle an, gleich einem zerlumpten Madonnenschutzmantel: und das, was jeder
ist, so viel oder wenig es sein mag, wird in den unglaublichsten Gesprächen
ausgetauscht. Es beginnt damit, dass einer sagt: "Es ist ein bisschen kalt
heute", und endet bei Gesprächen über die großen Weltsysteme, man wagt
schwindelerregende Inhaltsangaben des eigenen Lebens und des Laufs der Welt, man
lauscht unerhörten Begebenheiten, man schmiedet gemeinsame Pläne und
verabschiedet sich für immer.
Im Herzen der Nacht, in dieser Bar,
werden die tausend Ängste des Tages zu einer einzigen lauteren
Zuversicht.
(Aus "Inseln in Rom. Streifzüge durch die Ewige Stadt" von
Marco Lodoli.
Ausgewählt und aus dem Italienischen von Gundl Nagl.)
Rom, wie es nicht in den
Reiseführern vorkommt: Marco Lodoli
nimmt uns mit an Orte, an die sich kaum je ein Tourist verirrt. So führt er
uns zu einem verwunschenen Antiquariat, zu dem uralten Heiligtum des Mithras
unter der Kirche San Clemente oder zu einer wunderbaren Konditorei, die 24 Stunden
geöffnet hat. Ein Streifzug durch die unbekannten Gassen der Ewigen Stadt, ergänzt
mit Fotografien von Peter-Andreas Hassiepen, die überraschend andere Blicke
auf Rom offenbaren.
Buch
bestellen