Stanislaw Lem: "Solaris"

"Der Mensch ist anderen Welten entgegen gezogen, anderen Zivilisationen, ohne die eigenen Winkel durch und durch kennen gelernt zu haben, Sackgassen, Schächte, dunkle verrammelte Türen."


Beziehungen zwischen Geist und Materie - Bewusstsein oder Nichtsein, wie sinnvoll ist diese Frage?

Der Psychologe Dr. Kris Kelvin - Ich-Erzähler des Romans - trifft nach einer sechzehnmonatigen Reise auf der verwahrlost wirkenden Station über der Solaris, einem Planeten der in einer gravitationsmäßig unbeständigen Umlaufbahn um zwei Sonnen, eine rote und eine blaue, kreist, ein. Dort reagiert der erste Mensch, dem er begegnet - aus vorerst unerfindlichen Gründen - zutiefst verängstigt und misstrauisch auf den Besucher. Dr. Snaut, Kybernetiker und Stellvertreter Dr. Gibarians, ist eine zwielichtige Gestalt, die zwischen dem Neuankömmling von der Erde und dem anderen verbliebenen Bewohner der Station, dem sonderbaren Dr. Sartorius, der sich die meiste Zeit im Laboratorium verbarrikadiert, vermittelt und im weiteren Verlauf stets nur so viel verrät, wie Kelvin bis zum jeweiligen Zeitpunkt meist schon selbst herausgefunden hat. Doch bei alldem scheint Dr. Snaut sein eigenes Süppchen zu kochen ...

Was ist mit Dr. Gibarian, dem Leiter der Station, geschehen? Kelvins Nachforschungen ergeben, dass der Wissenschafter Selbstmord begangen hat. Doch weshalb? Und warum machen Snaut und Sartorius aus der Angelegenheit ein großes Geheimnis?

Gibarian hat Kelvin schriftliche Botschaften, aufgrund derer der Psychologe in der Bibliothek der Station Nachforschungen anstellt, sowie ein Tonband hinterlassen, welchem einige Zeit später besondere Bedeutung zukommt.
Kelvin meint nun angesichts der unerklärlichen Vorgänge, den Verstand verloren zu haben und unterzieht sich einigen Tests, doch das Unfassbare bleibt Realität bzw. bleibt die Realität unbegreiflich.

Schon kurz nach seiner Ankunft auf der Station läuft Kelvin eine unheimliche Erscheinung über den Weg: eine "ungeheure Negerin", die in Gibarians Kabine verschwindet; er fühlt sich beobachtet, und als er schließlich beim Erwachen Harey, seine ehemalige Geliebte, die im Alter von 19 Jahren seinetwegen Selbstmord begangen hat, erblickt, versteht er das seltsame Verhalten seiner Kollegen zunehmend besser: Jeder von ihnen hat einen höchst persönlichen "Gast", den offenbar der planetarische Organismus auf Grundlage der Gedächtnismuster der Menschen an Bord der Station erschaffen hat. Doch sind dies keine unproblematischen Figuren, sondern solche, die in erster Linie Schuldgefühle und Ängste auslösen, weil ihre Erscheinungsform dem Unterbewusstsein bzw. nur im Schlaf zugänglichen Teilen des Unbewussten des Einzelnen entspringt. ("Und das Wort wird Fleisch.") So sehen sich die drei Männer mit den Schatten ihrer Vergangenheit konfrontiert, und es gibt kein Entrinnen, wobei Kelvin sozusagen noch Glück hatte, denn "seine" Harey stellt keine Gefahr für ihn dar, zumindest solange er ihre ständige Anwesenheit duldet.

Die von den drei Forschern so bezeichneten "F-Gebilde" erweisen sich im Verlauf komplizierter und bisweilen spannender Experimente als Neutrino-Gefüge, die der lebende Ozean allem Anschein nach infolge eines einige Zeit zurückliegenden Röntgenexperiments aus Gedächtnismustern der Stationsbewohner konstruiert hat. Diese Gebilde brauchen keinen Schlaf, sie sind mit "herkömmlichen" Mitteln (Gift, Messer, Strick) nicht loszuwerden, und selbst wenn man einen dieser ungebetenen "Gäste" in einer Rakete aus der Station schießt, taucht nur wenige Stunden später eine erneute Reproduktion auf, als wäre nichts geschehen, und kann sich an nichts erinnern!
Um einen Weg aus dieser mitunter unerträglichen Endlosschleife zu finden, experimentieren die Forscher mit einem Apparat, dem Annihilator. Allerdings ist Kelvin immer weniger davon überzeugt, Harey tatsächlich loswerden zu wollen; vielmehr hat er sich rasch an ihre unvermeidliche Gegenwart (der "Gast" muss seinem Gastgeber fortwährend körperlich nahe sein) gewöhnt; er empfindet sie nicht als peinlich oder als Störung, ganz im Gegensatz zu Snaut und Sartorius, die sich niemals im Beisein ihrer Besucher blicken lassen und alles tun, die Erscheinungen zu verbergen, was ebenso gewisse Rückschlüsse auf deren Beschaffenheit (und natürlich auf die Bewussteinszustände der Forscher selbst) zulässt.

Kris Kelvin findet sich mit seinem Gast ab - mehr noch, er setzt sich für Harey ein, rettet sie, als sie (undurchführbaren) Selbstmord mit flüssigem Sauerstoff begehen will, weil sie mittlerweile ahnt, wer sie ist. Kelvin redet von einer gemeinsamen Zukunft auf der Erde, gibt sich der trügerischen Illusion hin, mit dieser Harey eine zweite Chance zu haben - wohl wissend, dass das F-Gebilde im Einflussbereich der Solaris bleiben muss, und so ist es schließlich erneut Harey, (wenngleich diesmal nicht das irdische Original), die aus Kris Kelvins Untätigkeit und seiner Realitäts- wie auch Kommunikationsverweigerung die Konsequenzen zieht und handelt ...

Dies geschieht nach einem Versuch, in dessen Verlauf der Ozean über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt mit Kelvins aufgezeichneten Gehirnströmen aus einem Röntgengeschütz bestrahlt worden ist, was neue Reaktionen des gigantischen Organismus sowie das Ausbleiben der "Gäste" Snauts und Sartorius' zur Folge hat.

Der Schlusssatz des Romans lautet: "Ich wusste nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um."

Die Charaktere bleiben eher grob skizziert; sie reagieren auf Reize innerhalb der "Versuchsanordnung Solaris", wobei unklar bleibt, wer mit wem Experimente durchführt. Schlussendlich ist weder die Jahrzehnte lang angestrebte Kommunikation noch wiederholbare Interaktion zwischen Menschen und Ozean nachweisbar; die Kreaturen bleiben einander fremd und - nach menschlichem Ermessen - letzten Endes einsam. Ob der Blick in die Spiegel der eigenen Abgründe Veränderungen bewirkt hat oder nicht, bleibt offen. Die Beschäftigung mit dem Unbekannten ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Weltsicht ...
Doch wie ehrlich und zufriedenstellend fällt die Kommunikation mit dem eigenen Ich aus, und wann ist man reif für die Beschäftigung mit anderen Wesen, seien sie menschlicher Natur oder auch nicht? Derartige daueraktuelle Gedankenspiele stehen im Mittelpunkt dieses Genreklassikers. In diesem Kontext sind die Kulissen (eine Station, welche übrigens die Gestalt eines Diskus von zweihundert Meter Durchmesser hat) eigentlich relativ belanglos - finden Sie nicht? Lebendig und poetisch beschreibt Stanislaw Lem die stofflichen Ereignisse auf dem Planeten, die mannigfaltigen Bewegungen des Plasma-Ozeans; die Farben und Formen der sirupartigen Masse, die sich wie ein immenser Tierleib bewegt und gigantische Formationen (durch "ontologische Autometamorphose"!) hervorbringt, die Sonnenauf- und -untergänge (durch eine rote und eine blaue Sonne ergeben sich wahrlich beeindruckende Szenen!). Lem lässt der Solaris ihre Geheimnisse, er zieht sich respektvoll in die Beobachterperspektive zurück und wertet nicht.

Stanislaw Lem veranschaulicht das Labyrinth der wissenschaftlichen Fachgebiete, nicht ohne wohlplatzierte ironische Seitenhiebe auf tatsächliche Forschungszweige, die den eigentlichen Gegenstand ihrer Bemühungen auf Kosten der Wahrheitssuche nur allzu oft aus den Augen verlieren und als pseudoreligiöse Gedankenexperimente ausufern. Anhand der Solaris-Forschung, deren in langen Jahrzehnten verfasste Standardwerke neben Protokollen früherer Expeditionen in der Bibliothek der Station aufliegen, wird die systemimmanente Verwirrung deutlich, wenn Kris Kelvin beim Blättern auf dergleichen stößt: um den absoluten Wahrheitsgehalt wetteifernde Vorstellungen, Berechnungen und voreilige, eitle Schlussfolgerungen, sensationslüsterne Presseberichte. Beispielsweise rangiert der Plasma-Ozean in einer Klassifikationstabelle unter "Art - Polytheria, Ordnung - Syncytialia, Klasse - Metamorpha", und die Theorien bezüglich seines Daseinszustands wuchern grenzenlos. Niemals ist es gelungen, Kontakt - nach menschlichem Ermessen wohlgemerkt - mit dem Wesen aufzunehmen, wofür es selbstverständlich wieder zahlreiche mehr oder weniger wissenschaftliche Erklärungen und Hypothesen zuhauf gibt. ("Die Solaristik ... ist die Ersatzreligion des Weltraumzeitalters, sie ist Glaube, eingehüllt in das Gewand der Wissenschaft; der Kontakt, das Ziel, dem sie entgegen strebt, ist ebenso nebelhaft und dunkel wie die Gemeinschaft der Heiligen oder die Herabkunft des Messias. Die Erkundung kommt einem in methodologischen Formeln existierenden Liturgie-System gleich; die demütigende Arbeit der Forscher ist das Warten auf Erfüllung, auf die Verkündigung, denn Brücken zwischen Solaris und Erde gibt es nicht und kann es nicht geben.")

Der 1959/1960 entstandene Roman wurde bislang zweimal verfilmt: 1972 von Andrej Tarkowskij (UdSSR), sowie 2002 von Steven Soderbergh (bekannt durch "Sex, Lügen und Video", "Traffic", Ocean's Eleven"), mit George Clooney in der Hauptrolle.

Stanislaw Lem wurde am 12. September 1921 in Lwów (Lemberg) geboren. Von 1939 bis 1941 und von 1944 bis 1948 studierte er Medizin, Philosophie, Methodologie der Wissenschaft und Kybernetik. 1941 bis 1944, während der deutschen Besatzung, arbeitete er als Autoschlosser. Gegen Ende seines Studiums begann Stanislaw Lem zu schreiben, zunächst Gedichte, dann Novellen, nach 1950 Romane. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Übersetzungen seiner Werke erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich.
Stanislaw Lem starb am 27. März 2006 in Krakau.

(kre)


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