Horst Klengel: "König Hammurapi und der Alltag Babylons"


Als Hammurapi 1792 v. Chr. zum König von Babylon inthronisiert wurde, übernahm er die Leitung eines mittelmächtigen Staatsgefüges, dessen Wirkmacht auf die nähere Umgebung der Stadt (im Radius von etwa 80 Kilometer) beschränkt war. Als seine Regentschaft 1750 v. Chr. mit seinem Tod endete, hinterließ er seinen Erben ein Großreich, das vom persischen Golf bis hoch in den Norden, etwa bis an die Grenzen der heutigen Türkei, reichte und mehr oder minder das ganze Zweistromland am Euphrat und Tigris umfasste. Ein Reich, dem es freilich an innerer Stabilität mangelte, sodass es schon unter seinen Söhnen abzubröckeln begann, um schließlich dem vereinten Ansturm von Hethitern und Kassiten zu erliegen. Nicht nur sein Feldherrentalent hatte dem Babylonier den Aufstieg zum Herren eines Großreiches ermöglicht, sondern insbesondere auch diplomatisches Geschick und eine gleichermaßen schlaue wie skrupellose Bündnispolitik, die sich nach Unterwerfung gemeinsamer Feinde treulos gegen den bisherigen Verbündeten wandte.

Nach Innen blieb Hammurapi seinem Volk als guter Landesvater in Erinnerung, dem schon zu Lebzeiten kultische Verehrung entgegengebracht wurde. Die Völkerschaften besiegter Kriegsgegner behandelte er gnädig, wenn nicht sogar großzügig, was deren Bereitschaft zur Assimilierung in das altbabylonische Großreich jedenfalls förderlich war.

Geschichte ist nicht allein beschränkt auf große Persönlichkeiten, auf Helden und Staatenlenker, sondern zugleich immer auch Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Und gerade jene Epoche, welche von König Hammurapi letztlich so geprägt wurde, war zugleich eine Epoche des sozialen Wandels, eine Zeit der Individualisierung, des Heraustretens von Einzelnen aus dem uniformen Einerlei anonymer Masse. Während zu Zeiten der Vorherrschaft des Stadtstaates Ur in Mesopotamien noch zentral geleitete Planwirtschaften gang und gebe waren, so bildete sich nun unternehmerische Initiative und Privateigentum aus. Die von einer wohllebigen Oberschicht initiierte Nachfrage nach Luxusgütern entwickelte auf der Angebotsseite Handel und Gewerbe, sodass eine Mittelschicht selbstbewusster Bürger entstehen konnte. Anstelle des Sklaven trat mehr und mehr der freie Dienstleister, welcher am Arbeitsmarkt seine Leistungen (im Regelfall die rohe Arbeitskraft) anbot und seinem Dienstgeber in mehrfacher Hinsicht günstiger kam, als der teuere Erwerb und kostspielige Erhalt eines Sklaven.

Es wird nicht überraschen zu erfahren, dass der Prozess der Individualisierung ebenso zu einer Emanzipierung im Denken der Menschen führte. Nicht weiterhin erkannte man der himmlischen Götter irdische Schöpfung als vollkommen an, insbesondere der vermaledeiten Sterblichkeit des Menschen wegen. Die Suche nach Unsterblichkeit wurde zum zentralen Gegenstand geistigen Sinnens und da dieses Suchen nur zu vergeblich schien trat bald schon Streben nach hedonistischer Sinneslust an die Stelle spiritueller Orientierung. Literarische Werke dieser Zeit bzw. darin vorgenommene Überarbeitungen stehen beispielhaft für diese im Grunde fatalistische Geisteshaltung der Hinwendung zur ungehemmten Lebenslust.
Dem Epos um den sumerischen Helden Gilgamesch, damals wohl schon ein beliebter Klassiker, wurde in altbabylonischen Zeiten die Suche nach der Unsterblichkeit als letztlich lustorientiertes "Leitmotiv" eingefügt: "Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, teilten sie den Tod der Menschheit zu, nahmen das Leben für sich in die Hand. Du Gilgamesch - dein Bauch sei voll, ergötzen magst du dich Tag und Nacht! Feiere täglich ein Freudenfest! Tanz und spiel bei Tag und Nacht! Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, mit Wasser sollst du gebadet sein! Schau den Kleinen an deiner Hand, die Gattin freue sich auf deinem Schoß! Solcher Art ist das Werk der Menschen!" Frömmigkeit und Wohlgefallen gegenüber den Göttern war offenbar zu jener Zeit kein Thema.

Individualisierung barg in sich die Gefahr des sozialen Abstiegs, der Verelendung, aber auch des abweichenden bis kriminellen Handelns. Altbabylonische Herrscher bemühten sich deswegen um "Gerechtigkeit" und erließen Gesetze, welche, wie Inschriften immer wieder betonen, die "Witwen und Waisen, die Armen und Schwachen" schützen sollten. Gewiss, bei solchen Regulationen handelte es sich um die Notwendigkeit komplexer werdende Gesellschaften zu ordnen und in Stabilität zu halten. Doch verstand sich gerade ein König Hammurapi als fürsorglicher Landesvater, als "Patriarch" einer überdimensionalen Familie und nicht zuletzt beruhte seine Macht auf der großen Popularität, die seiner Person im Volk zukam.

Ein Buch über König Hammurapi von Babylonien zu schreiben, heißt ein Buch über den "Kodex" des Hammurapi zu schreiben? Horst Klengel widersteht dieser naheliegenden Versuchung und gesteht dem sicherlich sensationellen Fund von 1901/02 in seinem Buch nur eine, im Hinblick auf den Gesamtumfang des Werkes, gleichermaßen eingeschränkte wie angemessene Bedeutung zu. Denn weder handelt es sich bei dem "Kodex" um einen Kodex im modernen Sinne (die Bezeichnung ist als Euphemismus zu erachten), noch ist er für die altmesopotamische Zeit als einzigartig zu erachten. Vielmehr ist dieses Selbstzeugnis des Hammurapi eine typische Manifestation sozialgeschichtlicher Entwicklungen, die überall in Mesopotamien Verrechtlichungsprozesse mit sich brachten. De facto handelt es sich um eine juristische Abhandlung, bestehend aus Erläuterungen und Verordnungen zu unterschiedlichen Rechtsgebieten und zur gerichtlichen Prozessordnung, die jedoch ganz sicher nicht alle Gesetzesbestimmungen jener Zeit in gesammelter Fassung wiedergibt. Die Einteilung in 282 Paragraphen wurde nachträglich im 20. Jahrhundert vorgenommen und dient der zeitgeistigen Untergliederung der Anordnungen, die sich sodann befassen mit Fragen zu: Übler Nachrede, Eigentumsdelikten, Miet- und Pachtrecht, Kreditvergaberecht, Handelsrecht, Ehe- und Familienrecht, Scheidungsrecht, Erbrecht, und, nebst Weiterem, den, wegen des anzuwendenden Talionsprinzips "Auge um Auge, Zahn um Zahn", sprichwörtlich gewordenen Strafrechtsbestimmungen. Gerade wegen dieser teils doch recht archaischen Rechtstexte - im Zweifelsfalle kommt das zweifelhafte Gottesurteil zur Anwendung - genießt Hammurapi heute in der Republik Irak große Popularität (Babylon liegt etwa 90 Kilometer südlich von Bagdad) und es werden dem Ur-Iraker, ob seiner kulturellen Leistungen auf rechtlichem Gebiete, Denkmäler errichtet. Wie auch immer, es ist nicht abzustreiten, dass man sich im Reiche des Hammurapi um Rechtskultur bemühte, weshalb man auch richterliche Korruption mit drakonischen Maßnahmen zu unterbinden trachtete. Die Stellung der Frau war alles andere als gleichberechtigt, doch auch keineswegs rechtlos. Horst Klengel schreibt dazu: So wird in der Gesetzessammlung des Hammurapi der Ehebruch recht ausführlich abgehandelt (§§ 129-136), wobei für die Frau die Treupflicht rechtlich fixiert wird, nicht aber für den Mann. In flagranti ertappte Ehebrecher hatten mit der Todesstrafe zu rechnen, es sei denn der betrogene Ehegatte verzieh seiner Frau. Erhob ein Ehemann Anschuldigungen gegenüber seiner Frau, ohne sie beweisen zu können, durfte die Frau einen Reinigungseid leisten, und die Sache war - wenigstens rechtlich - geklärt. Wurde sie unbewiesenermaßen in Verruf gebracht, hatte sie das Recht, durch ein Flussordal (Gottesurteil) ihre Unschuld nachzuweisen - freilich ein recht gefährliches Unterfangen für sie. In dem entsprechenden Paragraphen heißt es, dass sie sich "ihrem Mann zuliebe" im Fluss untertauchen lassen sollte. - Dies alles klingt für uns heutige zynisch und menschenverachtend und darüber hinaus sexualfeindlich und ganz im Widerspruch zu den lustbetonten Prosatexten altbabylonischer Dichter und Sinnsucher. Doch darf man nicht vergessen, dass es sich um eine patriarchalische Gesellschaft handelte und es zu dieser Zeit nicht gewöhnlich war, dass man Frauen überhaupt Rechte zugestand, bzw. wie im Scheidungsrecht dem Mann weitgehend angeglichene Rechte. Urkunden belegen die volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Frau in altbabylonischer Zeit. Ehen wurden per Kontrakt geschlossen und beinhalteten vor allem individuelle Vereinbarungen für den Scheidungsfall. Betrachtet man die Gesetzestexte des Hammurapi, wie auch eine Menge anderer Rechtsdokumente, so gewinnt man den Eindruck einer verrechtlichten Gesellschaftsordnung. Selbst Sklaven und versklavten Kriegsgefangenen wurden gewisse Rechte, wie etwa das Freikaufungsrecht, zugestanden.

Horst Klengels Buch über König Hammurapi und den Alltag Babylons ist gewiss kein Beispiel für fetzigen Wortwitz und aufreizende Spracheffekte. In knochentrockener Manier zeichnet der Honorarprofessor für Assyriologie und Hethitologie an der Humboldt-Universität in Berlin ein gewissenhaft seriöses Bild des alten Babylons und seines großen Herrschers. Es handelt sich im besten Sinne des Wortes um gediegene Wissensvermittlung, die man sich aus Interesse an Geschichtswissenschaft antut und nicht um eines kurzweiligen Vergnügens wegen. Geschichte ist an sich schon spannend und für sich genommen ein Abenteuer im Geiste, was bedarf es also noch mehr als der bloßen Darlegung im Jargon bedächtiger Sachlichkeit. Mehr soll sie nicht sein, mehr wäre unvermessen, billige Effekte würden der Methode ernsthafter Wissensvermittlung nur abträglich sein. Diese Gesamtdarstellung des Lebens im alten Babylon mag also etwas mühselig zu erlesen sein, doch gewinnt sie eben aus ihrer Liebe zum sachlichen Detail für den Leser ein farbenprächtiges Panorama frühgeschichtlicher Lebensart, die, je mehr man sich in sie vertieft, auf sonderbar faszinierende Weise lebendig und gegenwärtig wird. Gegenwärtig nicht zuletzt, wegen der überragenden Bedeutung von Subjektwerdung und Rechtsprechung in jenen fernen Tagen, was unser Vorurteil vom despotisch beherrschten wie gleichsam zu anonymer Unkenntlichkeit vermassten alten Orient ganz gewaltig ins Wanken bringt. Wer sich ein sachlich fundiertes Gesamtbild vom Leben im alten Mesopotamien aneignen will und nicht unbedingt oberflächliche Kurzweil sucht, dem sei dieses Buch von Horst Klengel wärmstens empfohlen.

(Harald Schulz; 2. Juni 2002)


Horst Klengel: "König Hammurapi
und der Alltag Babylons"
Taschenbuch. Artemis & Winkler, 1999.
280 Seiten.
ISBN 3-7608-1214-7.
ca. EUR 12,95.
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