Wladimir Kaminer: "Karaoke"

Disco, Gags und jede Menge Wodka


Russische Musik - und vor allem russische Rockmusik - hat bei uns eigentlich einen schlechten Namen. Sie gilt als einfallslos, gestrig und wenig authentisch. Dass sich an diesem Negativbild in letzter Zeit etwas geändert hat, liegt an einem Moskauer, der 1990 nach Deutschland kam und seither als Autor und DJ Kultstatus erreicht hat. Wladimir Kaminer gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten neueren deutschen Autoren. Sein kauziger Stil, der zum Teil auch dadurch zustande kommt, dass Deutsch seine Zweitsprache ist, kommt besonders gut bei öffentlichen Lesungen - wovon die unterhaltsamen Live-Mitschnitte, die auf CD erhältlich sind, beredtes Zeugnis ablegen. Hier trägt er mit unerschütterlichem Ernst und breitem russischem Akzent Alltagsgeschichten vor, die einen Sinn für leise Ironie verraten. Manchmal ist das Ergebnis zum Brüllen komisch, selten ohne Schwung, und immer interessant, denn die Welt, von der Kaminer erzählt, kommt sonst im öffentlichen Diskurs nicht vor. Es sind Skizzen aus einer Einwandererschicht, der mittlerweile ein erklecklicher Teil der Bevölkerung, vor allem in Berlin, angehört, und die sonst höchstens in Kleinkriminellenstatistiken auftaucht. Ihnen verleiht Kaminer seine Stimme, und wird damit zum Mittler zwischen den Kulturen und den Generationen.

Bekannt geworden ist Kaminer mit dem Begriff "Russendisko". Dieser war der Titel seines ersten Buchs und stellt auch heute noch die Lebensgrundlage des Autors dar: Das Organisieren von Tanzabenden im Berliner Retro-Café Burger, bei denen russische Tanzmusiktitel aus den letzten Jahrzehnten aufgelegt werden und reichlich Wodka ausgeschenkt wird. Kaminer und Mitarbeiter geben diesen Abenden mit animierten Zwischenansagen und Gesangseinlagen einen eigenen Reiz, der mittlerweile auch dazu geführt hat, dass man die "Russendisko" in alle möglichen Teile des Landes exportiert hat. Wer heute irgendwo eine Feier oder ein Fest veranstaltet, bei dem es um die ehemalige Sowjetunion geht, wird Kaminer dazu einladen, den DJ abzugeben. Dabei kommt es immer wieder einmal zu interessanten oder komischen Zwischenfällen, und davon ist im neuen Buch hauptsächlich die Rede.

Es ist eine oberflächlich betrachtet zufällige, und doch geschickt komponierte Ansammlung von Geschichten und Anekdoten, die eines gemeinsam haben: In das "Handbuch eines DJs", wie Kaminer es nennt, zu gehören. In jedem Stück geht es um Musik und Stilrichtungen. Kaminer erzählt, welche russischen Rockstars ihn geprägt haben, wie er selbst zur Musik kam und welche Erfahrungen er damit seither gemacht hat. Einige ältere Texte sind unauffällig miteingeflochten, so die sehr komische Schilderung der Bedeutung der Texte Gruppe Rammstein in Kaminers Heimat, die man schon von seinen Auftritten kennt. Das Buch lebt vom Erinnerungsvermögen des Autors, der die kulturelle Armut der Sowjetunion vor allem im zweiten Teil mit zahlreichen Anekdoten und Gags ins Bewusstsein zu rücken weiß. Aber auch die deutsche Heimat kriegt ihr Fett ab. Der soziokulturelle Vergleich zwischen den südlichen Landesteilen Deutschlands und Russlands und ihrer Bedeutung für die Volksmusik bietet Gelegenheiten zu zahlreichen Seitenhieben auf Kulturträger, die nicht nach Kaminers Geschmack sind, so etwa die Teilnehmer des "Musikantenstadels".

Es mag Zufall sein, dass Wladimir Kaminer und Ephraim Kishon jüdische Satiriker sind, deren Schriften im selbst gewählten Exil entstanden, und die vor allem am deutschen Buchmarkt ihre Leser fanden, aber es besteht kein Zweifel, dass Erzählhaltung und Stil große Ähnlichkeiten aufweisen und der Jüngere wie niemand sonst geeignet ist, den Platz des vor kurzem verstorbenen Älteren im Herzen der deutschen Leser einzunehmen. Bei beiden liegt das Erfolgsrezept in einem Humor, der nie verletzend sein will, und doch immer von scharfer Beobachtungsgabe getragen wird. Es ist ein Plauderstil, der vor Abschweifungen nicht zurückschreckt - sofern sie zu Gags hinführen. Und es ist da der Reiz des Exotischen, der sich aus der Perspektive eines Weltenwanderers ergibt. Kishons Popularität entstand daraus, dass er seine Alltagsgeschichten im eben gegründeten Staat Israel ansiedelte, wo er selbst als ungarischer Jude Fremdling war. Als sich deutsche Leser mit ihm identifizierten, gehörte er zu jenen Juden, die sich öffentlich zu Nachkriegsdeutschland bekannten. Eine ähnliche Vereinnahmung passiert nun Kaminer, der zwar die ersten 23 Jahre in Moskau verbrachte, die Wende aber dazu benutzte, nach Deutschland auszureisen. Damit scheint er vielen zu dokumentieren, dass Deutschland wieder ein lebenswertes, sicheres Land geworden ist, ein Einwandererland mit Zukunft. So ist Kaminer mehr als ein Kulturbotschafter der Russen in Deutschland - er wird zur Stimme einer Einwanderergeneration, die sich ansonsten anderweitig resigniert der müde gewordenen "Leitkultur" fügt. Sein Rezept ist erfolgsträchtig: Heiße Rhythmen, Witze zum Schlapplachen und jede Menge Wodka.

(Berndt Rieger; 09/2005)


Wladimir Kaminer: "Karaoke"
Manhattan, 2005. 192 Seiten.
ISBN 3-442-54575-7.
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(Ausgewählte Titel, gelesen vom Autor)

Leseprobe:

Von den Deutschen kennen die meisten in Russland nur Rammstein. Alt und Jung, alle finden Rammstein gut. Sie sollen sogar bei dem neuen russischen Zeichentrickfilm Nussknacker mitmachen und treten regelmäßig in großen Stadien auf. Das war nicht immer so. Am Anfang gab es mit Rammstein Probleme, weil viele Randgruppen die Band missverstanden und in den jungen Musikern ihre Glaubensbrüder zu erkennen meinten. Die russischen Skinheads hielten sie für Nazis und freuten sich, dass endlich die Nazirock-Welle auch Russland erreicht hatte. Die Yuppies hielten Rammstein für eine abgefahrene schwule Boygroup, die Punks hielten sie für eine Anarchoband aus der ehemaligen DDR, und die Anhänger des Bodybuilding hielten die Musiker für deutsche Schönheitsikonen.
Wenn alle diese unterschiedlichen Gruppen gleichzeitig ein Rammstein-Konzert besuchten, fing sofort ein aktiver Meinungsaustausch darüber an, wer die wahren Fans von Rammstein waren und wer sich nur hierher verirrt hatte. Viele Knöpfe wurden von Mänteln abgerissen, Unbeteiligte krankenhausreif geschlagen, Busse umgekippt, Haltestellen angezündet und Kulturhäuser verwüstet. Einige Konzerte wurden schon im Vorfeld von der Stadtverwaltung verboten. In mehreren Interview hatte der Sänger der Gruppe, Till Lindemann, betont, dass ihn Politik, Gewalt und Homosexualität eigentlich nicht interessieren und dass Rammstein möglichst breite Schichten der Bevölkerung ansprechen wolle, denn in ihren Liedern gehe es um allgemein menschliche Werte, um etwas, das jedem - ob Homo oder Nazi oder sonst was - teuer und wichtig sein müsse, nämlich um Glaube, Liebe, Hoffnung und den Tod. Irgendwann beruhigten sich die Gemüter in Russland - und die verschiedenen Randgruppen mussten sich Rammstein mit dem Rest der Bevölkerung teilen. Die Band wurde zu einem russischen Popidol. Die unterschiedlichsten Menschen fanden auf Rammstein-Konzerten zueinander und sangen alle zusammen im Chor: "Bestrafe mich, bestrafe mich, du darfst mein Bestrafer sein, ja, ja, ja."
Durch den Aufstieg von Rammstein wurde das Image der Deutschen in Russland stark verbessert. "Nicht alle Deutschen sind Nazis! Einige können sogar gute Lieder schreiben", das war die Botschaft, die mit Rammstein rüberkam. Gleichzeitig stellten viele fest, dass die verfluchte und für sehr kompliziert gehaltene deutsche Sprache gar nicht so schwer ist. Seit Rammstein permanent im russischen Radio und Fernsehen zu hören und zu sehen ist, können plötzlich alle Russen ein wenig Deutsch. "Töte mich und iss mein Herz", summen sie morgens auf dem Weg zur Arbeit. Die Texte sind klar und emotional und leicht nachzusingen. "Eins- hier kommt die Sonne, zwei - hier kommt die Sonne, drei, vier, fünf, sechs..." - so etwas kann sich jeder merken. Und weil Fremdsprachenkenntnisse heute in Russland zu den großen Tugenden zählen und die Sprachschulen voll sind, wurden die Rammstein-Texte auch sofort in deren Lehrstoff einbezogen. Ein russischer Verlag hat in seiner Lehrbuchreihe Deutsch lernen leicht gemacht sogar einen Textband herausgegeben mit dem Titel: "Rammstein; - Lieder für den Deutschunterricht." Das Buch wurde nicht nur bei den Rammstein-Fans ein großer Erfolg. An vielen Sprachschulen wird die Rammstein'sche Poesie als ideales Lehrmaterial für Anfänger benutzt, weil (laut Vorwort) schon ein Wortschatz von fünfhundert Wörtern ausreicht, um sie zu verstehen. Das Lehrbuch fängt mit dem einfachsten Lied an: "Rammstein - Die Sonne scheint" und endet mit dem kompliziertesten Text, den man am besten auswendig lernt: "Leg mir die Ketten an, der Schmerz ist schön wie nie, ich gehe auf die Knie..." Das Buch ist dünn, achtundvierzig Seiten in fetter Schrift, doch wer es durch hat, kann Deutsch. Daran besteht kein Zweifel: Er kann dann nach Deutschland fahren, hier in jeden Laden gehen und die Verkäuferinnen fragen: "Wollt ihr das Blut vom Degen lecken? Wollt ihr den Dolch ins Laken stecken?" - und jede wird ihn verstehen.

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