Norbert Lammert (Hrsg.): "Verfassung, Patriotismus, Leitkultur"

Was unsere Gesellschaft zusammenhält


"Wenn Deutschland multikulturell sein und dennoch seine Identität nicht verlieren soll, braucht es bei allen verschiedenen kulturellen Ausprägungen einen roten Faden, eben eine Leitkultur." (Kurt Biedenkopf)

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat vermittels vier sorgsam ausformulierter Fragen zur Diskussion über den umstrittenen Begriff von der Leitkultur aufgerufen, und eine ebenso illustre wie konfliktfreudige Schar aus Politik, Medienwesen, Religion, Wirtschaft und Kunstgeschehen ist seinem Ruf gefolgt. Insgesamt 42 Autoren haben auf Lammerts Fragen mit kleinen Essays oder zumindest briefartigen Kommentaren reagiert und solcherart ihren Beitrag zum Gelingen des Buches geleistet. Was sich letztlich zur Lektüre darbietet, könnte nicht mehr viel kontroversieller ausgefallen sein. Und dem sei sogleich ein bedauerndes leider beigefügt, denn wenn auch fast jeder Text auf seine Weise brilliert und überlegenswerte Perspektiven aufzeigt, also nachdenklich stimmt, so handelt es sich doch in nicht wenigen Fällen um ein mehr oder weniger pointiert dargebrachtes Bekenntnis zum jeweiligen weltanschaulichen Gesinnungslager, dem der jeweilige Autor zugehörig ist. Lyotards Sprachspieltheorie triumphiert einmal mehr. Man bleibt auf Parteilinie und inszeniert jenen Wortlaut, den man, ihn aus dem Fundus der eingewöhnten intellektuellen Sackgasse herausklaubend, für politisch korrekt erachtet. Zuweilen ersetzen sogar Gehässigkeit und Aggression in der Wortfindung ein ernsthaftes Ringen um überzeugende Argumente. Man hat zwar nichts zu sagen, doch sagt man dies in aller Schärfe. Unverhandelbare Gesinnungsethik tollt sich auf mancher Seite aus. Der Unterhaltung tut dies freilich keinen Abbruch, und ein nicht geringer Teil des lesenden Publikums wird sich überdies lieber in dem einen oder anderen Kommentar gespiegelt sehen, als auf unbequeme Thematiken eingehen zu müssen.

Jener unbequemen Thematiken gibt es in unseren Tagen nicht wenige. Immer noch sind sie zumeist zwar tabuisiert, doch werden die Ausblendungsmechanismen politischer Korrektheitsdiktate zusehends brüchiger. Selbstquälerisches Schweigen weicht selbst in intellektuellen Milieus zusehends einem um schonungslose Wirklichkeitserkennung bemühten Sprachstil, der sich von der Scheuklappenethik und den modischen Beschwichtigungsgesten der 1990erjahre substanziell unterscheidet. Die multikulturelle Gesellschaft, als empirisches Faktum von niemandem bestritten, ist als Idealvorstellung eines auf gegenseitigem Respekt, Toleranz und Verständnisses begründeten Gesellschaftsmodels infolge unschöner Vorkommnisse zuletzt wahrnehmbar in die Krise geraten. Eine Mehrheit der Autoren aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern hält sie nichtsdestotrotz für unumgänglich und im Sinne kultureller Vielfalt sowie einer kosmopolitischen Weltethik für durchaus wünschenswert. Ihr Begriff sei zwar, als tendenziöse Herabwürdigung der heimischen Mehrheitskultur, genauso fragwürdig wie jener der Leitkultur, ihre über lange Zeit verschleierte Realität hätte zudem erst kürzlich ein schlimmes Erwachen nach sich gezogen, doch gäbe es in Zeiten von Globalisierung und zunehmenden Souveränitätsansprüchen beim Entwurf individueller Lebensentwürfe im Grunde genommen keine nennenswerte Alternative dazu. Und ob uns das jetzt freut oder nicht, ist einerlei - sie ist uns schicksalhaft. Die eigentlich strittige Frage ist nun die nach der flankierenden Maßnahme zu ihrer überfälligen Stabilisierung. Denn dass es verkehrt war, die Dinge jahrzehntelang einfach nur treiben zu lassen, dürfte unstrittig sein. Wortgefechte entflammen nunmehr über Sinn oder Unsinn allgemein verbindlicher kultureller Vorgaben, die sich in erster Linie an muslimische Zuwandererpopulationen adressieren und über einen bloßen Verfassungspatriotismus, dem leidenschaftlichen Bekenntnis zu grundgesetzlichen Freiheits- und Gleichheitsrechten, hinaus schreiten.

Will man ein vernünftiges Gespräch über eine Idee führen, so sind in erster Linie jene gefordert, welche die Idee hervorgebracht haben. Sie müssen darlegen, was sie unter ihrer Idee verstehen. Kritiker der Leitkulturalisten werfen diesen nun vor, ihr Gedanke von der Leitkultur sei nicht nur ob darin verpackter nationalistischer Anwandlungen bedenklich und auf verdächtige Weise arrogant, sondern überdies unscharf und keineswegs ausgegoren. Was sie hätten, sei ein politisches Kampfvokabel, aber nicht wirklich eine Idee, über die es sich nachzudenken lohnt. Nach der Lektüre des Buches halte ich diesen Vorwurf für unfair. Oder kann es sein, dass erstmals mit dieser Schrift ernsthafte Versuche zur Ausformulierung unternommen worden sind? Ich denke, dem ist nicht so. Norbert Lammert führt zum Beispiel in seinem Textbeitrag - bestimmt nicht zum ersten Mal - überzeugend aus, dass der gut gemeinte Appell zum Verfassungspatriotismus weder als Ersatz für grundlegende Wertentscheidungen und kulturelle Orientierungen taugt, noch ohne diese eine Aussicht auf eine Verwurzelung im sozialen Leben hat. Bestand und Wirkungsmacht können Rechte folglich nur haben, wenn ihre kulturellen Grundlagen nicht erodieren. Was nun konkret unter Leitkultur verstanden werden kann, findet sich in den Ausführungen von Christoph Böhr, der in seinem Beitrag auf vier für das deutscheuropäische Selbstverständnis konstituierende Leitideen bzw. Konventionen verweist. Diese Böhr'schen Leitideen, welche als genuin mitteleuropäisch übrigens keineswegs überall auf Erden selbstverständlich für das Miteinander der Menschen sind, seien an dieser Stelle schlaglichtartig vorgestellt:

   1. Die Gemeinsamkeit der Sprache (Hochdeutsch als Leitsprache)
   2. Das herrschaftsfreie, demokratisierte Gespräch als Leitregel
   3. Die Bereitschaft zum Widerspruch (Gesprächskultur)
   4. Der Leitrespekt als Maxime des Handelns

Betrachtet man Christoph Böhrs Katalog der Leitideen unvoreingenommen, so dürfte die Idee einer Leitkultur eigentlich durchaus diskussionswürdig sein. Sollte man meinen. Umso mehr ärgern Diskussionsverweigerungen, die sich in gehässigen Polemiken erschöpfen anstatt auf konstruktive Entwürfe einzugehen. Reale Kernwerte der deutschen Leitkultur seien volkstümliche bis volksdümmliche Unterhaltungsgelüste, heißt es da nicht so wortwörtlich, doch sinngemäß, an einer Stelle. Nicht zum ersten Mal wird das abstoßende Treiben im Bierzelt zwecks abschreckender Imagination deutschen Volkstums vorgeführt. Ein Volk aus religiös uninteressierten oder desorientierten Opportunisten mit zweifelhaften Manieren könne einfach nicht stolz auf sich sein. Das hat im Partiellen vielleicht noch etwas für sich, obwohl solcherart, in für mitteleuropäische Intellektuelle nicht unüblicher, selbstzerfleischender Manier, grob generalisierend verfahren wird. Mit Verweis auf allfällige derbe Bräuche spricht man dem eigenen Volk zugleich auch eine jede verfeinerte Kulturalität ab; denunziert es als hässlichen Pöbel, was in den Appell mündet: "Ausländer! - lasst uns nicht mit den Deutschen allein!"

Des Weiteren Fritz Kuhn, unversöhnlich: "Der Leitkulturbegriff war eine Ausgrenzungsidee, ... - Wir Grüne haben den Begriff Leitkultur weg gebissen." Oder Renate Künast: "Wir brauchen eine Debatte - aber nicht über 'Leitkultur'." - weil: "Der Begriff wird meistens verwendet, um etwas Eigenes angesichts des (vermeintlich) Fremden zu verteidigen. Was dieses Eigene sein soll, bleibt dabei ungreifbar." Und weiter: "Er - der Begriff von der Leitkultur - kommt entweder als nationale oder christliche Leitkultur daher, oder aber er wird als Kampfbegriff eingesetzt." - An dieser Stelle frage ich mich, ob Frau Künast noch nie von den vier "Leitideen" eines Christoph Böhr vernommen hat, die ich als moderat und weder als nationalistisch noch als christlich verbrämt erachten würde. Claudia Roth, ihres Zeichens Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen, wiederum zitiert die ebenso verstörte wie verstörende Reaktion eines Paul Spiegel auf die Leitkulturdebatte "Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?", verwehrt sich gegen ihres Erachtens bald schon damit einhergehende Zwangsmaßnahmen zur Integration, die sich in erster Linie gegen Menschen aus islamischen Ländern richten dürften, und spricht stattdessen einem interkulturellen Dialog unter Gleichwertigen das Wort. Der Leitkulturdiskurs hätte letztlich Ausgrenzung und eine Hierarchisierung in die eigene Leitkultur und in die fremde, minderwertige Zweitkultur zur unerwünschten Konsequenz.

Es sollte anhand dieser aus der Fülle von Beiträgen herausgegriffenen Schlaglichter besonders scharfer Entgegnungen nun keineswegs der Eindruck entstehen, die Kommentare der erwähnten Grünpolitiker seien gegenüber jenen der Christdemokraten einfach nur subversiv angelegt und dienten einzig der Verweigerung oder Destruierung einer sachlichen Diskussion. Auch bei den Grünen findet sich ein gerütteltes Maß an Problembewusstsein, sowie eine entschiedene Zurückweisung archaischer Folkloren zu Lasten von Frauen und Randexistenzen innerhalb von Zuwandererpopulationen. Sie halten den Begriff der Leitkultur einfach für ein idealistisches Gespinst und wittern darin ein unaufgelöstes Modernisierungsproblem erzkonservativer Unionsideologen. Angesichts der Vielfalt gängiger Wertorientierungen sei die Zurückführung der komplexen Wirklichkeit auf einige wenige Leitideen nicht nur eine vergebliche Liebesmüh', sondern tue eben dieser Komplexität Gewalt an und bezwecke im Spezifischen die Ausgrenzung muslimischer Werthaltungen. Womit die Leitkulturdebatte, so Claudia Roth gegen Ende ihres Beitrags, letztlich dazu beiträgt, dass Hassprediger die Interpretationshoheit gewinnen. Eine Kultur der Anerkennung sei die adäquate Alternative zur diffusen Vision einer deutscheuropäischen Leitkultur.

Wenn also auch nicht jeder aus dem Autorenkollektiv sich einer konkretisierenden Diskussion zum Thema Leitkultur zugesellen möchte, in einem gewissen Sinn findet sie trotz allem statt, über Alternativen wird allemal regsam nachgedacht. Und das nicht nur bei Claudia Roth, sondern in etwa auch bei Michael Sommer, der Menschwürde statt Leitkultur postuliert, oder bei Hans Joachim Meyer, der an die Stelle des seines Erachtens zu statischen und missverständlich dominanten Leitkulturbegriffs einen dynamischen Leitbildbezug setzen möchte. Sehr treffend, weil in jeder Hinsicht ernüchternd, gestaltet sich für mich der von einem anderen Autor getätigte Einwurf, dass alles Gerede über Leitkulturen, Verfassungspatriotismus und interkulturelle Dialoge sowieso hinfällig ist, solange in der gesellschaftlichen Praxis das Primat der Ökonomie gilt. Was zählen stolze Leitwerte und hehre Grundnormen, wenn diese beim ersten Aufblitzen eines Kapitalverwertungsinteresses weggesteckt sind? Ist nicht längst schon wirtschaftliche Macht wertbestimmend geworden? Und das insbesondere außerhalb der westlichen Hemisphäre, was angesichts weltweiter Vernetzungen jedoch keineswegs in weiter Ferne an unserer "heilen Welt" vorüberzieht.

Im Grunde genommen geht es um mehr als nur um die Debatte kontroversieller Begrifflichkeiten von wegen Leitkulturalität, Multikulturalität oder Interkulturalität. Es geht mitunter um das Bedürfnis nach einem politischen "Heimat-Gefühl", das mehr ist als rechtsstaatlich verkürzter Verfassungspatriotismus, um es mit Worten der Mitautorin Hortensia Völckers zu sagen. Der Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen hat alles, auch ihn selbst, verändert, gesteht Hans-Ulrich Jörges in Zeilen, aus denen Betroffenheit spricht. Es sei das offenkundige Bestreben der Islamisten, den Islam in Europa unangreifbar zu machen. "Das führt zu einer moslemischen Leitkultur" - warnt die Islamwissenschafterin Christine Schirrmacher. Konfrontiert mit einer nun tatsächlich leitkulturalistischen Selbstgewissheit, die islamistische Militanz, der Überlegenheitsanspruch und die Verachtung dieser anderen Kultur der unseren gegenüber, seien existenzielle Fragen an uns selbst aufgeworfen, denen auszuweichen nicht mehr möglich ist: Wofür stehen wir? Wofür kämpfen wir? Wer sind wir eigentlich? Auf diese Fragen könne es weder selbstverständliche noch selbstgewisse Antworten geben, doch ist die Zeit abgelaufen, zu welcher man sich aus stiller Ratlosigkeit in bequeme, aber letztlich nur feige Lebenslügen flüchtete. So mancher Begriff mag uns ob seiner sofort erwitterten Anrüchigkeit zwar immer noch nur schwer über die Lippen kommen, uns zu einem Reflex des Zurückweichens bewegen, wir kommen schlussendlich aber doch nicht mehr darum herum, zu bedenken, was uns bis kürzlich einfach nur bedenklich schien.

(Bruno; 11/2006)


Norbert Lammert (Hrsg.): "Verfassung, Patriotismus, Leitkultur"
Hoffmann und Campe, 2006. 300 Seiten.
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Norbert Lammert wurde 1948 in Bochum geboren. Altsprachlich-humanistisches Gymnasium, nach Wehrdienst Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Neueren Geschichte und Sozialökonomie in Bochum und Oxford; Promotion in Sozialwissenschaften 1975. CDU-Mitglied des Bundestages seit 1980. Von 1989 bis 1998 Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr. Von 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seit Oktober 2002 Vizepräsident, seit dem 18. Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.