Semier Insayif, Martin Hornstein: "libellen tänze"


Gedichte treffen auf sechs Cello Suiten: Klangsinnlichkeit zum Abheben

Semier Insayifs fingerfertige Poesiepartituren
Für all jene, die bereits Gelegenheit hatten, den Wortdompteur und Sprachakrobaten Semier Insayif im Rahmen einer Veranstaltung leibhaftig zu erleben, bietet "libellen tänze" Bekanntes und Überraschendes: Semier Insayif verleiht der Sprache Flügel. 
Wer noch nicht das Vergnügen hatte, den Autor bzw. sein Werk kennen zu lernen, dem ist dies nun anhand von "libellen tänze" vergönnt, und zwar sowohl als Lese- wie auch als Hörgenuss.
Verschriftlichte Gedichte ohne Melodien sitzen bekanntlich gewissermaßen "auf dem Trockenen" und führen darob zumeist ein Schattendasein am Rande des Publikumsinteresses; ein Schicksal, das sie übrigens mit Bachs Suiten für Violoncello solo, (denen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts gebührende Aufmerksamkeit zukommt), teilen.

 


Semier Insayif bei seiner Lesung
am 12. Juni 2004 im Rahmen 
der "Straße der Literatur"
Foto: Harald Schulz

Insofern fügt das Projekt "libellen tänze" zusammen, was eines Ursprungs ist: Worte und Klänge. Eine für beide Formen des künstlerischen Ausdrucks vorbildliche Kooperation, wobei - nur damit kein falscher Eindruck entsteht - Semier Insayif seine Texte keineswegs zu den Cello Suiten singt, sondern jedem der beiden Künstler Raum zur individuellen gepflegten Entfaltung zur Verfügung steht.

Die Audio-CD, welche dem Lyrikband beigeschlossen ist, präsentiert einen nachdenklich und verhalten bis zerbrechlich deklamierenden Semier Insayif, der in konzentrierter Spannung seine Gedichte zu Gehör bringt, und Martin Hornstein lässt den Bogen auf den Saiten tanzen, zaubert Polyphonien auf seinem Instrument, die noch lange im Gemüt des Lauschenden nachhallen.
Die CD bietet glanzvolle Aufnahmen von Johann Sebastian Bachs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts komponierten Cello Suiten 1-3 im Wechsel- bzw. Zusammenspiel mit von Semier Insayif in einem bisweilen an Paul Celan erinnernden Tonfall vorgetragenen Gedichten - im übertragenen Sinn werden quasi "alle Register gezogen": Musik und Sprache vereinen sich zu einem melodischen Wohlklang, verschmelzen zu einem rasanten, wendigen nichtsdestoweniger präzisen Geflecht.
Sind auch Semier Insayifs Texte nicht unbedingt liedhaft im herkömmlichen Sinn, vollbringt der Autor das Kunststück, seinen einmal beschleunigenden, dann wieder zerhackten oder auch bedächtig schwingenden Schöpfungen Leben einzuhauchen, wobei es bei seinen Lesungen oft nicht beim "Einhauchen" bleibt: Semier Insayifs Interpretationsrepertoire umfasst neben Zischlauten auch Raunen, Schreien und Keuchen, was die vor Vitalität strotzenden Darbietungen des "Textdarstellers" wohltuend von jenen vieler anderer zeitgenössischer Literaten unterscheidet.

Aus der intensiven Zusammenarbeit des Schriftstellers mit dem Musiker auf Grundlage der Bach'schen Suiten und der gegenseitigen Inspiration entstand die "elaborierte Struktur" des Gedichtreigens, welche Roland Leeb in seinem Nachwort ausführlich erläutert.

Als Suite wird übrigens eine bestimmte Kompositionsform, bestehend aus einer Abfolge verbundener (echter oder auch stilisierter) Tanzsätze, zu denen z.B. Allemande, Courante, Sarabande und Gigue gehören, bezeichnet.
Der besondere Reiz der Gedichte dieses Bandes ergibt sich ausgehend vom Wesen der Suiten: Gelegentlich wird spielerisch auf Konsonanten verweilt, als weitere Stilelemente wären u.a. Alliteration, Betonung, Pausen, Tonbindungen und Trennungen anzuführen; manche Gedichte wirken unterbrochen, als wären sie gerade noch der Schere eines Tontechnikers entschlüpft.
Diesen Kriterien tragen auch die verschriftlichten Texte Rechnung, indem von jedem Gedicht jeweils sowohl die lautliche Interpretation als auch die sozusagen "ausgeschriebene" Fassung dargestellt ist, wobei auch - wie bei einer Partitur - Anweisungen für die Darbietung in kursiver Schrift gegeben werden, wie folgendes Beispiel (suite nr. 1 in g-dur; "blau - hebend sich so an"; prélude) illustriert:

r heb nd sich als körp r steig nd auf
aus sein n häut n häut nd sch lüpft b schwingt
r wach nd frei aus blind heit teich vergess n
nt deck nd sel bst aus flüg l at m sicht
adonis gleich azur als jungf r hebt
r sch raub nd sich zum bog n saum des himm ls

so hebt ein körper sich hinauf ins blau
aus seinen häuten häutend schlüpft beschwingt
erwachend frei aus blindheit teich vergessen
entdeckend selbst aus flügle atem sicht
adonis gleich azur als jungfer hebt
er schraubend sich zum bogen saum des himmels

 

ellen lang den atem schroff ins schorf geflügelt

 

Im Duden-Herkunftswörterbuch findet sich unter Libelle folgende Eintragung: "Das vom Volksmund mit zahlreichen Namen wie 'Wasserjungfer', 'Schleifer', "Augenstecher" bedachte Raubinsekt (mit vier glashellen Flügeln) wurde von den Zoologen im 18. Jahrhundert mit dem lateinischen Wort libella "(Wasser)waage; waagrechte Fläche" (...) benannt, in Anspielung auf seinen gleichmäßigen, ausgewogenen Flug mit waagrecht ausgespannten Flügeln."

Welch wundervolles Bild für diese beispielgebende künstlerische Zusammenarbeit: Der gleichmäßige, ausgewogene Flug!

(kre; 11/2004)


Semier Insayif, Martin Hornstein: "libellen tänze"
Haymon, 2004. 72 Seiten, 1 Audio-CD.
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Semier Insayif wurde 1965 in Wien geboren. Er ist als Kommunikations- und Verhaltenstrainer, Fitnessberater und Instructor tätig, wirkt im Team für Konzept mit, befasst sich mit der Organisation und Koordination der literarischen Veranstaltungsreihe "Literatniktechtur" und des "Siemens-Literaturpreises". Der in Wien lebende Schriftsteller, Preisträger des "Wiener Werkstattpreises" 2000, veröffentlichte bislang in Literaturzeitschriften und Anthologien; bei Haymon erschien sein Gedichtband: "über gänge verkörpert".
Netzseite des Autors: http://www.semierinsayif.com/

Martin Hornstein, geboren 1954 in Wien, studierte Cello und Wien und New York. Er ist Gründer und Mitglied des "Altenberg Trio Wien", das anno 1999 mit dem renommierten Schumann-Preis der Stadt Zwickau ausgezeichnet wurde und zwei Jahre später den "Edison"-Schallplattenpreis erhielt.
Netzseite des "Altenberg Trio Wien": http://www.altenberg.co.at/

Ein weiteres Buch von Semier Insayif:

"Faruq"

Wien, um 1950: Ein junger Mann macht sich aus seiner Heimat Bagdad auf nach Wien; er will Medizin studieren, eine neue Zukunft aufbauen, fern von der Heimat. Jahrzehnte später: Ein anderer junger Mann begibt sich, einen Schritt vor den anderen setzend, auf den Weg zu seinen Wurzeln, in die Geschichte seiner Familie. Seine Erinnerung führt ihn zurück nach Bagdad, in die Heimat des Vaters. Entlang arabischer Worte, Zeichen und Satzfetzen, die wie aus einem Nebelschleier auftauchen, tritt er ein in eine fremdvertraute Sprache und Kultur; und er begegnet einer Frau, die unendlich weit entfernt ist, und vielleicht zugleich unendlich nahe.
Semier Insayif erzählt in rhythmisierter Prosa, in einem Strom von Handlungssträngen, die an und abschwellen, sich überlagern und kommentieren. Erinnerung wird zu Sprache, Sprache wird zu Erinnerung, sie fließen ineinander zu einem eindringlichen Bild von Heimat und Fremde und von einem Leben zwischen den Kulturen.. (haymonverlag)
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