Evelyn Grill: "Wilma"


"Acht Jahre war Wilma alt, als sie zu Agnes kam. Das verstörte Kind, das die Gendarmerie verwahrlost aus der verlassenen Wohnung befreite, heulte auf und zuckte zusammen, als Agnes es in die Arme nehmen wollte. Es war ihr nicht gelungen, Wilma diese Marotte, wie sie es bei sich nannte, abzugewöhnen. Sie wagte auch nie, einen Arzt darüber zu befragen, aus Furcht, man könnte ihr das Kind wegnehmen. Sie ist so, wie sie ist, sagte sich Agnes und fand sich damit ab."

1994 wurde "Wilma" von der in Deutschland lebenden österreichischen Autorin Evelyn Grill erstmals veröffentlicht. Im September 2007 erfolgte eine erneute Veröffentlichung der Erzählung in gebundener Ausgabe durch den Residenz Verlag.

In einem abgeschiedenen Dorf im Salzkammergut gehören Agnes und Wilma zu den Dorfbewohnern - nicht aber zu ihrer Gemeinschaft. Agnes ist Witwe und hat ihre besten Zeiten im Dorf als frische Witwe erlebt, als sie allerhand Beileidsbekundungen erhielt. Danach ist sie nicht nur wieder in das eher allgemeine Desinteresse an ihrer Person gerutscht, sondern gesellte sich zu den Außenseitern. Denn eines Tages vertraute man ihr in aller Stille Wilma an, ein dickes, unförmiges, geistig behindertes Mädchen, dessen Vater unbekannt ist und dessen Mutter sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Agnes nahm sich des Kindes an und besiegelte damit zugleich ein Leben voller Einsamkeit, denn mit Wilma kann Agnes fortan an kaum einem dörflichen Ereignis teilnehmen, und alleinlassen kann sie Wilma auch nicht. Doch Agnes arrangiert sich mit den Umständen, genießt es sogar ein Stück weit, gebraucht zu werden und sich eben durch Wilma nicht völlig vereinsamt zu fühlen. Eines Tages jedoch nehmen furchtbare Dinge ihren Lauf ...

Trotz seines geringen Umfangs ist "Wilma" eine Erzählung, die sicherlich lange nach der Lektüre noch nachwirkt. Zunächst ist es schwierig, in die Erzählung hinein zu finden, da Evelyn Grill mitten im Alltag von Agnes und Wilma zu berichten beginnt, sich nicht mit erklärenden Worten aufhält und das Ganze in der eher ungewöhnlichen Gegenwartsform schreibt, so dass der Leser sich zunächst von dem Buch herausgefordert fühlt.
Die ersten etwa fünfzig Seiten sind nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Probe. Besteht man diese nicht, wird man "Wilma" zur Seite legen, nicht ahnend, dass einem hierbei tatsächlich noch eine Menge entgeht. Besteht man sie hingegen und liest bis zum Ende, so lässt das Buch einen etwas verstört zurück.

Evelyn Grill ist nicht die Erste, die eine Geschichte über eine geistig Behinderte schreibt. Sie ist nicht die Erste, die eine solche im Rahmen eines eigentümlichen Dorfes ansiedelt und auch nicht die Erste, die Gewalt gegen Behinderte in einem solchen Rahmen thematisiert. Und doch ist "Wilma" etwas ganz Besonderes.

Die Autorin bleibt nicht bei diesen Themen, die sie geradezu schonungslos und lakonisch beschreibt, sondern sie greift wesentlich tiefer. "Wilma" ist nicht die Geschichte zweier Opfer, wie man lange Zeit meinen könnte, sondern die Geschichte eines einzelnen Opfers. Diese Besonderheit offenbart sich dem Leser erst nach Abschluss der Lektüre zur Gänze, und abgesehen von dem aufwühlenden und verstörenden Gesamtinhalt ist es auch dieses Detail, das einen nicht mehr so schnell loslässt.

Ein starkes Buch, das starke Leser braucht und verdient.

(Tanja Elskamp; 10/2007)


Evelyn Grill: "Wilma"
Residenz Verlag, 2007. 137 Seiten.
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Evelyn Grill, geboren am 15. Jänner 1942 in Garsten, lebt als freie Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau. Ihre Romane "Hinüber" (1999), "Ins Ohr" (2002) und "Winterquartier" (2004) erschienen bei Suhrkamp, seit 2005 veröffentlicht sie bei Residenz. Zuletzt erschienen: "Vanitas oder Hofstätters Begierden" (2005, nominiert für den "Deutschen Buchpreis") und "Der Sammler" (2006).
Für "Der Sammler" wurde sie mit dem "Otto-Stoessl-Preis 2006" ausgezeichnet.
Die in Graz ansässige "Otto Stoessl-Stiftung" vergibt seit 1982 alle zwei Jahre ihren mit (derzeit) 4.000 Euro dotierten Preis zur Erinnerung an den österreichischen Dichter, Essayisten und Kritiker Otto Stoessl (2.5.1875-15.9.1936; Werke: "Sonjas letzter Name"; Roman, "Das Haus Erath"; Roman u.a.). Teilnahmeberechtigt ist jeder deutschsprachige Autor mit einer Erzählung.
Die bisherigen Preisträger sind Annemarie E. Moser (1982), Wolfgang Kirchner (1984), Marianne Gruber (1986), Ernst Wünsch (Anerkennungspreis 1986), Franz Richter (1988), Inge Merkel (1990), Andrea Wolfmayr (1992), Paulus Hochgatterer (1994), Maxim Biller (1996), Evelyn Schlag (1998), Josef Winkler (2000), Jakob Perschy (2002) und Olga Flor (2004).

Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Vanitas oder Hofstätters Begierden"

Nicht Liebe war es, was den aufstrebenden Juristen Alois Hofstätter in die Ehe mit der Schauspielerin Olga trieb, der ein ganzes Stück älteren Witwe eines verstorbenen Klienten: es waren ihr Ansehen und ihr Vermögen, ihre leicht angereifte erotische Ausstrahlung und der nicht zu vernachlässigende Umstand, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Hofstätters wahre und ewige Liebe gilt der Kunst und seine Leidenschaft dem Spiel, seit er kurz und glücklos einem jungen Mann verfiel, der seine Begierden nicht nur auf sich selbst, sondern auch ins Kasino zu lenken wusste. Die Gattin hält ihn schuldenfrei, und das Kind ist mittlerweile zu einem Jüngling herangewachsen, an dem sich die Sinne des praktizierenden Ästheten schadlos halten können, an dem sie einen Ausgleich finden für die körperlichen und seelischen Zumutungen der welkenden Gefährtin.
Doch das Gefüge der großbürgerlichen Scheinwelt, welche die dekadenten Eitelkeiten der beiden befriedigt, ist brüchig: im Spannungsverhältnis zwischen äußerlicher Repräsentation und dem inneren Ungenügen, ja der immer weniger zu unterdrückenden Feindschaft, wachsen sich die Konflikte eines "falschen" Lebens zu einem erbitterten Machtkampf aus, der schließlich in die Katastrophe führt.
Mit schonungslosem Blick zeichnet Evelyn Grill das Porträt eines ebenso kaltschnäuzigen wie bemitleidenswerten Dandys, dem die Ästhetisierung des Alltags die Erziehung der Gefühle ersetzt. Die angemessene Empörung über das amoralische Verhalten ihres Protagonisten liefert die Autorin nicht mit; sie muss Sache des Lesers bleiben. (Residenz Verlag)
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"Winterquartier"

"Ihre Finger zittern, als sie das Kleid der Lotte Spannring säumt. In ihrem erregten Zustand wagt sie die Stiche, die auf dem feinen Gewebe unsichtbar bleiben müssen, nicht mehr zu machen. Max, denkt sie zum ersten Mal. Max! Da hat sie einen Namen, der zu ihr gehören könnte, der sich an ihren heften ließe. In diesem Augenblick wünscht sie sich den Mann ins Zimmer. Komm! sagt sie. Jetzt könnte sie ihm ihre Antwort geben. Sie ist bereit. Du, flüstert sie, und denkt sich als Frau Leimer. Schluss mit dem Fräulein Roswitha."
Eine Geschichte aus der österreichischen Provinz, die Geschichte eines beschädigten Frauenlebens. Roswitha, von Beruf Änderungsschneiderin, 42 Jahre alt, alleinstehend, ist gehbehindert, ihr ganzer Stolz sind ihre schönen Finger. Es geschieht nichts Besonderes in ihrem Leben, bis eines Tages das Pfarrhaus, in dem sie lebt, renoviert wird und plötzlich Max auf dem Gerüst steht. Mit einem Heiratsantrag überrumpelt er Roswitha, er zieht bei ihr ein. Vom Heiraten ist bald nicht mehr die Rede, er will doch nur ein "Winterquartier". Max ist grob, und von der Umgebung ist kaum Hilfe zu erwarten. Das Unheil nimmt seinen Lauf. (Suhrkamp)
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"Der Sammler"
Sammeln als Besessenheit: die berührende Geschichte eines Menschen im Widerstand gegen die Wegwerfgesellschaft.
Alfred Irgang ist Sammler. Allerdings sammelt er nicht Briefmarken oder Antiquitäten, sondern schlichtweg alles, was ihm in die Hände fällt: alte Zeitungen, neuwertige Zahnprothesen und andere Dinge, die ahnungslose Vertreter der Wegwerfgesellschaft der Müllabfuhr überantworten. Entsprechend sind auch seine Wohnung und diverse Kellerabteile bemerkenswert angeräumt, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten mit der Hausverwaltung führt, ihn aber nicht daran hindert, weiter auf die Jagd nach Kostbarkeiten zu gehen. Weiß nicht ein achtlos entsorgtes Damenmieder ebenso viel zu erzählen wie ein Biedermeiersekretär? Am Stammtisch, der eine Runde von Wissenschaftern und Kunstsinnigen zusammenführt, breitet er gern seine Schätze aus, was naturgemäß auf wenig Gegenliebe stößt. Als ihn ein "Arbeitsunfall" ans Spitalsbett fesselt, wittern sie die Chance zur Zwangsbeglückung ...
Mit feiner Ironie erzählt Evelyn Grill von einer sich gut wähnenden Gesellschaft, in der die Devise "leben und leben lassen" von der Gier nach Vereinnahmung eines Unangepassten zu Grabe getragen wird. (Residenz Verlag)
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