Jean-Christophe Grangé: "Das schwarze Blut"


Um Haaresbreite der Lynchmeute entwischt

Im einen Augenblick noch in seinem Traum gefangen, wird sein Leben im nächsten schon zum Albtraum, denn eine aufgebrachte Menschenmenge reißt ihn aus seiner Hütte und schleppt ihn unter Tritten und Schlägen Richtung Dschungel. Dort steht ein Baum, von dem ein Seil herabbaumelt. Das Seil wartet - auf ihn!

Nur knapp entgeht Jacques Reverdi einem Lynchmord. Doch sein Tod scheint unabwendbar zu sein, denn man wirft ihm vor, als Serienmörder in Südostasien mehrere Frauen bestialisch umgebracht zu haben. Nun sitzt er im Gefängnis von Kuala Lumpur und wartet auf seinen Prozess.

Auf der anderen Seite der Erdkugel arbeitet Marc Dupeyrat als Reporter für ein sensationslüsternes Boulevardblatt. Er sieht die Möglichkeit zum "großen Durchbruch" gekommen, als ihm der Auftrag angeboten wird, über Reverdi zu berichten. Doch dieser erweist sich als harte Nuss und verweigert jede Aussage. Da verfällt Marc auf den zunächst wahnwitzig erscheinenden Einfall, sich einer getürkten Identität zu bedienen, um einen Zugang zu Reverdi zu bekommen. Er erfindet eine Studentin namens Elisabeth, die für ihre Doktorarbeit recherchiert und sich für psychologische Profile von Mördern interessiert. Reverdi schluckt den Köder, verlangt jedoch ein Foto von Elisabeth. Ohne Zögern schickt Dupeyrat diesem ein Foto Khadidjas, eines mit ihm befreundeten Fotomodells. Viel zu spät erkennt Dupeyrat den tödlichen Fehler. Doch dann ist es zu spät, diesen rückgängig zu machen.

Investigativer Journalismus
Jean-Christophe Grangé greift das Motiv des skrupellosen und über Leichen gehenden Reporters auf, verleiht ihm aber durch sein besonderes schriftstellerisches Talent, Figuren ausgezeichnet zu psychologisieren, eine tiefere Dimension, als es gemeinhin im Genre der Serienmörder-Romane üblich ist. Dupeyrat ist nicht einfach nur geltungssüchtig, sondern bereits in frühestes Kindheit wurde sein Leben durch eine Gewalttat beeinflusst: Als sein bester Freund Selbstmord beging, fiel er traumatisiert für mehrere Tage ins Koma. Doch noch weitaus schlimmer war sein Erlebnis als junger, verliebter Erwachsener: Als er mit seiner Verlobten eine Sizilienreise unternimmt, wird diese ermordet. Seit dem ist er schier besessen davon, zu erfahren, wie "Das Böse" funktioniert, was einen Mörder "zum Ticken bringt".

Doch nicht nur durch diese tiefenpsychologischen Kniffe ist Grangé seinen Metierkollegen einen Schritt voraus, denn trotz aller charakterisierender Einblicke wird sein Roman nicht langmütig, sondern hetzt den Leser von einem Höhepunkt zum nächsten. Dass es in seinen Romanen nicht zimperlich zugeht, ist allen seinen Lesern bereits seit "Die purpurnen Flüsse" bekannt. Allen Neu-Entdeckern sei gesagt, dass sich Grangé in Bezug auf Detailverliebtheit ungefähr auf dem Niveau von Karin Slaughter bewegt. Doch im Gegensatz zu so manchem anderen Autor, bei denen sich der Verdacht aufdrängt, die Schilderungen dienten allein dem Selbstzweck, ist man hier geneigt, diese als (leider) notwendigen Bestandteil des dynamisch voranschreitenden Handlungsverlaufs anzuerkennen, da auch diese Schilderungen nicht plump-trivial wirken und auf Wirkung getrimmt erscheinen, sondern in einem literarischen Gesamtkontext betrachtet werden müssen und dadurch eine gewisse Berechtigung erlangen.

Schnelle Schnitttechnik
Vom Leser wird bei "Das schwarze Blut" viel erwartet, denn es ist schier unmöglich, einen geeigneten Zeitpunkt zu finden, den Roman aus der Hand zu legen. So kann es geschehen, dass man das Buch mit schweren Lidern erst dann zuschlägt, wenn es eigentlich schon zu spät ist, sich noch hinzulegen, da der Wecker ohnehin gleich klingelt.
Grangé bedient sich einer schnellen Folge von Ereignissen und hängt eines fast nahtlos an das nächste, ohne dem Leser großartig Gelegenheit zu geben, eine Pause machen zu wollen. Dabei schwenkt er bei der Erzählperspektive zwischen den beiden ungleichen Protagonisten hin und her und erreicht durch diesen Wechsel, dass so manches, was auf den ersten Blick als "geniale Idee" der einen oder anderen Figur erscheint, sich beim zweiten Hinsehen als fataler Fehler entpuppt.

Fazit: Dynamischer und ausgeklügelter Spannungsbogen mit einem furiosen Finale. Durch die wechselnden Erzählperspektiven gewinnt die Geschichte sowohl an Tiefe als auch an Fahrt. Der Leser wird von Beginn an gefangen genommen von der erstaunlich differenzierten Erzählkunst des Franzosen, die sich bis hin zu den kleinsten Details im Roman erstreckt und die in diesem Genre eine seltene Erscheinung darstellt.

(Wolfgang Haan; 03/2006)


Jean-Christophe Grangé: "Das schwarze Blut"
Übersetzt von Barbara Schaden.
Ehrenwirth, 2006. 544 Seiten.
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Hörbuch (gekürzte Lesung):
Lübbe Audio, 2006. Sprecher: Joachim Kerzel.
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