Georgi Gospodinov: "Natürlicher Roman"


Roman und Natur - ein Gegensatz?

"Das Auge der Fliege ist eine richtige Offenbarung. Es ist bestens entwickelt und umfasst beinahe den gesamten Kopf. Das Auge besteht also seinerseits eigentlich aus Tausenden kleiner Augen, den Facetten, von denen eine jede sechseckig und leicht konvex ist. Jede Facette nimmt nur einen Bildpunkt wahr, das Gesamtbild wird erst im Gehirn zusammengesetzt. Das Weltbild der Fliege ist also mosaikartig, oder genauer facettenartig. Allgemein anerkannt ist also die Ansicht, Fliegen seien kurzsichtig, aber was für einen genaueren, detaillierteren Blick auf die Welt könnten wir uns vorstellen? Die Fragmentiertheit, die manche Romanciers als Methode verwenden, ist eigentlich dem Auge der Fliege nachempfunden. Was für ein Roman würde wohl entstehen, wenn wir eine Fliege dazu bringen könnten zu erzählen ..." (Seite 99)

Ein Ich-Erzähler, der Literat Georgi Gospodinov, trennt sich von seiner Frau; sie ist von einem anderen Mann schwanger - die dem Roman zugrunde liegenden Geschehnisse lassen sich leicht in ein, zwei Sätzen erzählen.

Aber macht das Erzählen, das Wiedergeben des Vorgefallenen, allein schon ein literarisches Werk aus? Oder braucht es als Draufgabe noch zusätzliche Perspektiven und Aspekte, einen durchgehenden Erzählstrang und Protagonisten, um die herum sich die Handlung aufbaut? Ein postmoderner Roman darf und muss mit all diesen Elementen spielen - als ein Buch, das nur aus Anfängen besteht, das als Textcollage Sinn aus der Apposition von scheinbar unzusammenhängenden Passagen schöpft. So wird dieses Werk des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov, Jahrgang 1968, vom Literaturverlag Droschl beworben.

Die Leser werden aus der Lektüre des "Natürlichen Romans", den Texten zu den Themen Anfang und Ende - der Beziehung, der Verdauung, des Lebens und der Hoffnung -, vielleicht erkennen, wie etwas Organisches direkt aus dem Leben entstehen kann und werden sich an der Leichtigkeit der Sprache, dem plaudernden Ton und dem feinen, distanzierenden Humor freuen.

Was den Roman zu einem besonderen macht, liegt eine Ebene tiefer: Gibt es einen prinzipiellen Gegensatz zwischen der Natur, dem ungesteuerten Zusammenführen von Informationen aus verschiedenen Richtungen, so wie es die Fliege mit ihren Facettenaugen macht, und der Komposition eines literarischen Werkes?

Es ist nicht leicht, Gospodinovs ersten Roman, im Original 1999 erschienen, zu lesen, denn der Autor interessiert sich vorderhand nicht für die leserfreundlichen Konventionen des Romaneschreibens, sondern für die "Natur" des Romans selbst, für die - in der Literatur üblicherweise - unvereinbaren Gegensätze zwischen Spontaneität und Natürlichkeit einerseits und dem Handwerk der Schriftstellerei. Dass den Roman ausgerechnet das der Natur entnommene Leitmotiv der Stubenfliege und ihres bevorzugten Aufenthaltsortes am Abort zusammenhält, ist wiederum "natürlich", aber innovativ und vielleicht doch kein Zufall, sondern ein gekonnter Streich dieses bulgarischen Herrn der Fliegen.

(Wolfgang Moser; 10/2007)


Georgi Gospodinov: "Natürlicher Roman"
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann.
Literaturverlag Droschl, 2007. 167 Seiten.
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Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia, redigiert seit 1993 eine Literaturzeitung, ist Kolumnist der Tageszeitung "Dnevnik" und arbeitet am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Künste.
1992 debütierte Gospodinov mit dem Lyrikband "Lapidarium", dem ein weiterer Gedichtband 1996 folgte; einem internationalen Publikum wurde er mit seinem ersten Roman, eben dem "Natürlichen Roman", 1999, bekannt - Übersetzungen in mittlerweile zehn Sprachen folgten. Auch als Bühnen- und Drehbuchautor (der Kurzfilm "The Ritual" war Teil des Eröffnungsprogramms der 55. Internationalen Filmfestspiele Berlin) war Gospodinov erfolgreich. Auf Deutsch liegen die Erzählungen "Gaustín oder Der Mensch mit den vielen Namen" (Wieser 2004) vor.

Ein weiteres Buch Gospodinovs:

"Physik der Schwermut"
Der Erzähler von Georgi Gospodinovs zweitem Roman leidet an übergroßer Empathie: er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben – ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt werden, eine im alten Ostblock bei Kindern und Jugendlichen ohnehin beliebte Praxis …
Aus zahlreichen kurzen poetischen Kapiteln komponiert Gospodinov einen melancholischen Roman, der – wie oft bei Melancholikern – amüsiert und überrascht, und unterstreicht damit nachhaltig seinen weltliterarischen Rang. Seine Vergegenwärtigung altgriechischer Mythen ist ebenso denkwürdig wie seine Erinnerung an 40 Jahre bulgarischen Kommunismus. Und dass das Festhalten des gegenwärtigen Augenblicks eine vergebliche Aufgabe ist: es hindert ihn nicht daran, sich dieser Aufgabe von Seite zu Seite immer wieder neu zu stellen. (Droschl)
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Leseprobe:

Niemandem ist es je gelungen, etwas aus seinem Traum mitzunehmen. Es gibt eine unsichtbare Zollkontrolle beim Verlassen des Traums, wo alles konfisziert wird. In meiner Kindheit hatte ich zum ersten Mal diese schmale Grenze bemerkt, wo Jenes Etwas stand. Ich nannte es so, weil ich keinen Namen dafür hatte. Jenes Etwas durchsuchte mich gründlich beim Verlassen des Traums und ließ mich erst aufwachen, nachdem es sich davon überzeugt hatte, dass ich nichts mitgenommen hatte. Es kam vor, dass ich mehrere Tage, eigentlich Nächte nacheinander von der Konditorei des Viertels träumte. Ich stellte mich in die Schlange, und wenn ich an die Reihe kam und vor der Konditorin stand, begann ich, nervös in meinen Taschen zu wühlen, und mit jeder durchwühlten Tasche wurde das Entsetzen immer größer. Ich hatte erneut mein Geld vergessen. Es war dort drüben, auf der Tagseite, in der Tasche der Hose, die ich ausgezogen hatte, bevor ich zu Bett gegangen war. So blieben vom ganzen Traum nur die Scham und das Entsetzen. Und der Geschmack der nicht gekosteten Torten. Eines Abends nahm ich meine ganzen damaligen Ersparnisse. Mit dem Geld aus der kleinen Sparkasse ergab sich die solide Summe von 2 Leva und 20, 30 Stotinki. Ich steckte sie in die Tasche meines Schlafanzugs und ging los. Ich schlief ein. Ich denke, dass mich Jenes Etwas beim Eintreten nicht durchsuchte. Ich stand vor der Konditorin und umklammerte das Geld in der Tasche. Ich wollte sie verblüffen, indem ich eine ganze Handvoll Stotinki in den kleinen Teller ausschüttete, und sie dabei "anschmachten". Ich weiß nicht, woher ich dieses Wort hatte, aber ich benutzte es hartnäckig im Sinne von "den Hof machen". Je kleinere Münzen ich der Konditorin gab, desto länger würde ich sie anschmachten können. Für dieses Geld kaufte ich mir einige Tortenstücke mit einer Butterrose darauf, Sirupkuchen, zwei Hirsebier und ein Dutzend Lakta-Bonbons. Ich wollte sie nicht an Ort und Stelle essen. Ich steckte sie in eine Tüte und wartete ganz ruhig darauf, dass ich aufwachte. Am Morgen war nichts in meinem Bett. Ich langte in die Tasche meines Schlafanzugs. Das Kleingeld war noch da. An all dem war Jenes Etwas an der Grenzkontrolle schuld, das grausam die schönsten Erinnerungen aus den Träumen verschlingt. Jenes Etwas, von dem ich gehört habe, dass man es Träumesindschäume nennt. Vielleicht heißt es auch so.

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