Avirama Golan: "Die Raben"


Der Roman "Die Raben" der israelischen Autorin Avirama Golan war nach seinem Erscheinen 2004 in Israel ein vieldiskutierter und in breiten Kreisen gelesener und beachteter Bestseller. Vordergründig ist es ein reiner Frauenroman, erzählt er doch die Geschichte zweier Frauen im heutigen Israel, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch ist dieser Roman, ähnlich wie die im gleichen Jahr erschienenen Bücher von Eshkol Nevo "Vier Häuser und eine Sehnsucht" (deutsch 2007 bei DTV) und von Yiftach Ashkenazy "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (deutsch 2007 bei Luchterhand) ein Kaleidoskop der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft, die zwischen Tradition und Moderne hin- und hergerissen, von einer Korruption unerhörten Ausmaßes bis in die Regierung und das Militär hinein bedroht und geschwächt um ihr Überleben bangen muss. Der letzte desaströse und von der Regierung völlig dilettantisch geplante Waffengang gegen die Hisbollah im Libanon hat der Resignation und der Spaltung in der israelischen Gesellschaft noch einmal weiteren Vorschub geleistet. David Grossmann, der selbst einen Sohn in diesem Krieg verlor, hat unlängst davon gesprochen, dass das Schlimmste sei, dass der Terror der Feinde Israels sein Hauptziel eigentlich schon erreicht habe, nämlich die innere und moralische Kraft eines stolzen Volkes zu brechen, es abstumpfen und kälter werden zu lassen. Wenn dieser Prozess weitergehe, so Grossmann, gepaart mit der demografischen Entwicklung in Israel, die das jüdische Volk im eigenen Land zur Minderheit werden lasse, dann sei es um die Zukunft dieser einzigen und letzten Zuflucht verfolgter Juden in aller Welt schlecht bestellt.

Avirama Golan erzählt in "Die Raben" die Geschichte von Genia und Didi. Beide haben zunächst gar nichts miteinander zu tun, und erst gegen Ende wachsen Geschichten und Leben der beiden Frauen in der Handlung des Buchs zusammen, als Didi, eine TV-Produktionsassistentin, über Genia einen Film drehen soll.

Genia ist eine alte Frau, die Ende der 1930er-Jahre der bevorstehenden Vernichtung der osteuropäischen Juden entkommt und aus einem kleinen Städtchen in der Ukraine nach Palästina einwandert. Sie gehört sozusagen zu den Menschen der ersten Stunde, die helfen, das Land zu roden und urbar zu machen, es zu kultivieren und aufzubauen. Dennoch lebt sie nach wie vor in einer anderen Welt. In einem Interview mit der "ZEIT" erzählte Avirama Golan, dass sie eine solche Geschichte aus ihrer eigenen Familie kennt. Ihre Eltern stammen aus Galizien. Der Vater ist aus zionistischer Überzeugung in das damalige Palästina eingewandert, die Mutter kam halt mit. "Trotz seiner Ideologie ist er hier aber nie wirklich angekommen. Jedes Mal, wenn er mit seinem europäischen Hut auf dem Kopf zum Flughafen fuhr, sah ich, wie er zu dem Mann wurde, der er eigentlich war." Auf den Vorhalt, dass in "Die Raben" die Vaterfiguren Mitgefühl erregen, die Mütter aber nicht, entgegnete Golan:
"Die Frau spielt in der jüdischen Kultur eine immense Rolle. Sie gilt als die wahre Stütze des Hauses; wenn der Mann eine gute Frau hat, ist er ein guter Mann, wenn er eine schlechte Frau hat, ist er ein schlechter Mann. Das nenne ich dämonisch."

Da auch der Versuch der Kibbuzbewegung gescheitert ist, die traditionelle Verbindung zwischen Eltern und Kindern aufzulösen, hängt auch in Israel, mehr noch als in europäischen Ländern, viel an den Frauen. Sie werden nach wie vor an ihrer Mutterrolle gemessen, vor allem von ihren eigenen, bis in ihre Seelen hinein einflussreichen Müttern, stehen aber dennoch im auch für Frauen verpflichtenden Militärdienst und an vielen gesellschaftlichen Positionen ihre Frau.

In der Rolle der Didi, jener Fernsehjournalistin, die sich, mit der Lebensgeschichte Genias konfrontiert, mit ihrem eigenen Leben, ihrer Kindheit und Ehe auseinandersetzt und alles vor dem drohenden Zusammenbruch zu bewahren sucht, beschreibt Golan diese Mehrfachbelastung. Derweil befasst sich Didis Tochter Na'ama, gelehrt von ihrem Großvater, mit den in Israel häufig vorkommenden Raben. Und was dieses Mädchen bei den Raben beobachtet, wird zum Sinnbild des Zustandes eines ganzen Landes, einer Parabel darüber, wie das Land mit seinen Nachkommen und der äußeren Bedrohung durch seine Feinde umgeht und welche tiefe Hoffnung es treibt:
"Die Raben haben ihr Leben lang denselben Partner. Mitte Februar kommen einige Paare zu ihrem gewohnten Brutplatz zurück, oder sie finden einen neuen, und sie fangen an zu brüten. Nicht alle, weil es nie genügend Plätze für alle Paare gibt. Und sie ignorieren die Eindringlinge. Vor vielen Monaten, vielleicht sogar vor vielen Generationen, haben die Rabenoberen beschlossen, dass es den Eindringlingen erlaubt sein solle, ihre Eier in drei, vier Nester zu legen, um ihre Art zu erhalten. Wer ein Kuckucksei in seinem Nest findet, weiß, dass ein oder zwei seiner Jungen nicht das Licht der Welt erblicken werden. Wahrscheinlich weiß er auch, dass ihm kein noch so heftiger Widerstand helfen wird, wenn das Kuckucksweibchen sich erst einmal dazu entschieden hat, ihr Ei ausgerechnet in sein Nest zu legen, das Kuckuckspaar wird sein Küken vernichten. Deshalb lässt er es geschehen. Der graue Rabe, der auf dem Wipfel sitzt und sein Nest mit den Eiern der Eindringlinge hütet, verteidigt also mit seinem Körper seine dem Tod geweihten Nachkommen, weil der Schwarm beschlossen hat, sie dem Kuckuck zu opfern, damit sie mit ihrem Tod den anderen das Leben ermöglichen.
Wenn sie so klug sind, dachte Na'ama, wie kommt es dann, dass der Kuckuck nur ihre Nester wählt, um seine Eier hineinzulegen? Wie kommt es, dass ausgerechnet die Raben, von denen Großvater sagt, dass sie zwischen einem Besenstiel und einem Gewehr unterscheiden können, nicht merken, dass die zusätzlichen Eier zwar hellblau sind mit hell- und dunkelbraunen Sprenkeln, aber kleiner und runder als ihre eigenen? Und wie kommt es, dass die Raben, die es sogar schaffen, große Vögel zu verscheuchen, nicht in der Lage sind, sich gegen den Schnabel eines Kuckucks zu verteidigen, der die Rabenküken zu Tode quält und sie manchmal noch in der Schale ermordet? Vielleicht deshalb, weil es auf der ganzen Welt kein Geschöpf gibt, das unverwundbar ist.
Der Kuckuck greift gerade die starken Rabenpaare an. Für ihren Nachwuchs sind ihnen nur die besten Adoptiveltern genug. Diese starken, überlebensfähigen Raben, die gewohnt sind, Kämpfe auf Leben und Tod durchzustehen, werden schließlich gewinnen, sie werden eine neue Generation von klugen und lebensfähigen Jungen aufziehen. Das weiß auch der Kuckuck."


Welch eine unbändige und lebendige Hoffnung spricht aus diesem wunderbaren Bild! Avirama Golan hat ein eindrucksvolles Buch geschrieben, das man auf jeden Fall in Zusammenhang mit den beiden schon erwähnten Büchern von Eshkol Nevo und Yiftach Ashkenazy lesen sollte.

(Winfried Stanzick; 05/2007)


Avirama Golan: "Die Raben"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp, 2007. 252 Seiten.
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