Elaine Pagels: "Das Geheimnis des fünften Evangeliums"
Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt
Der Kanon der drei synoptischen 
Evangelien und des "gnostisch" angehauchten Johannes-Evangeliums hat 
mittlerweile Jahrhunderte überdauert. Es ist für die Mehrzahl der Christen 
selbstverständlich, diese Evangelien als Richtschnur für ihren Glauben zu 
verwenden. Alles könnte so einfach sein. Insbesondere dann, wenn man die Augen 
vor möglichen Erkenntnissen verschließt, die beim Studium des 
Johannes-Evangeliums zutage treten könnten.
Die synoptischen Evangelien 
berichten von Jesus als besonderem Menschen, der von Gott "begünstigt" war und 
dementsprechend als Verbindungsstrang zwischen Mensch und Gott dienen mochte. 
Egal, ob er als Messias, Heiland, Christus oder Prophet beschrieben ist: Er 
bleibt ein Mensch, und die von ihm ausgehende Kraft ist göttlicher Natur, die 
spirituelle Energien zu bündeln vermag.
  Der katholischen Kirche gereichten diese allzu menschlichen Dimensionen von 
  Jesus nicht als Grundlage, auf der sich eine Erweiterung ihrer Macht hätte aufbauen 
  lassen. Irenäus war ein Schüler von Bischof Polykarp, und "lernte" von ihm insoweit, 
  als er das Johannes-Evangelium von Apostel Johannes geschrieben befand und die 
  geschriebenen Geschehnisse für bare Münze halten wollte, auf dass die "Christenmenschen" 
  daran ihren Glauben messen mochten. Er war es auch, der den Kanon zu bilden 
  sich auserkoren fühlte und eine Vielzahl 
von 
  apokryphen Schriften aus diesem tilgte.
  
Der 
"Siegeszug" der katholischen Kirche lässt sich allein aus der Vormachtstellung 
des Johannes-Evangeliums ableiten. Die Verfolgungen von Andersdenkenden (die 
ihren Glauben nicht aus dem Evangelium des Johannes begründen) endeten oft in 
blutigen Zurschaustellungen und brutaler Vernichtung dieses gar nicht so kleinen 
Menschenschlags.
Das vorliegende Buch berichtet in einer dicht gedrängten 
Sprache darüber, wie es dazu kommen konnte, dass die - gelinde geschrieben - 
Seltsamkeiten des Johannes-Evangeliums bis in die heutige Zeit einer riesigen 
Anzahl von Christen als wesentlich gelten.
Denn "Johannes" (es war 
höchstwahrscheinlich keineswegs der Apostel Johannes) machte aus Jesus Gott, 
erfand die Mär von der Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus, der im übrigen 
aus einer "Jungfrau" heraus geboren wurde, die vom "Heiligen Geist" geschwängert 
sein mochte, und berichtete von Himmelfahrt und Auferstehung.
Für viele 
Christen handelt es sich hierbei um Wahrheiten, die unumstößlich sind. Wenn von 
Jesus die Rede ist, ist klar, dass es sich um Gott handelt. Und wenn von Gott 
die Rede ist (selbstverständlich auch im alten Testament), dann ist damit Jesus 
gemeint.
Wenn jemand heutzutage die Frage stellt: "Bist du Christ?", dann 
möchte er das Fragethema präzisieren und sich dementsprechend nach dem 
einhelligen Credo erkundigen, welches der Angesprochene zu bejahen sich 
auserkoren fühlen sollte: "Glaubst du, dass Jesus der Sohn Gottes ist?" "Glaubst 
du, dass Jesus Christus vom Himmel herabgekommen ist, um dich von Sündenschuld 
zu erlösen?"
Ja, ja, ja, müssen dementsprechend die Antworten lauten. Alles 
Andere wäre wohl ein Frevel.
  Es ist eine Tatsache, dass im Urchristentum keineswegs nur diese zum Dogma erhobene 
  Vorstellung existierte. Eine große Anzahl von Gemeinschaften bevorzugte andere 
  Evangelien. Und, ja, einige Menschen studierten 
das 
  Thomas-Evangelium und machten dieses zum Maßstab ihrer Glaubensrichtung.
  
Mit dem Vergleich von Johannes- und Thomas-Evangelium 
ist der Autorin etwas gelungen, worüber der Leser eigentlich verblüfft sein 
müsste. Sie beweist nämlich sehr schlüssig, weshalb das eine Evangelium als 
vollkommener Maßstab für die "Christenheit" gilt (insbesondere der katholischen 
Kirche), und das andere als häretisch abgetan worden ist. Es ist - wohlgemerkt - 
keine Spekulation, welche die renommierte Religionswissenschafterin anstellt. 
Sie hält sich an Informationen, die sie aus Geschichtsbüchern entnommen hat und 
verfolgt jene Spuren mit Bedacht, die direkt zu den Eigenheiten führen, auf 
denen die eklatante bzw. nicht vorhandene Präsenz dieser zwei Evangelien 
beruht.
  Das Johannes-Evangelium ist - und das ist der wichtigste Befund - gegen die 
  apokryphe Schrift des Thomas gerichtet. Thomas wird 
sozusagen 
  zur Schnecke gemacht, da er es gewagt hat, jene Doktrinen nicht zu glauben, 
  welche sich späthin als Glaubenssätze durchsetzen sollten.
  Dass jeder Mensch Gott in 
sich trage und jesusgleich den Sternen entgegensegeln könne, ist für Johannes 
eine schreckliche Blasphemie.
... "Wenn einer Gott gleich ist, wird er sich 
mit Licht füllen. Wenn er aber ein (von Gott) Getrennter wird, wird er sich mit 
Finsternis füllen."
Dieser Jesus in den Mund gelegte Ausspruch musste Groll 
in Irenäus erzeugen. Jeder Mensch kann zur Lichtgestalt werden? Nein, nein, 
nein. Die einzige Lichtgestalt, die allen anderen Menschen als Quelle dienen 
soll, ist Jesus, der Gott in Menschengestalt war und ist.
Menschen 
sollten die Richtlinien des - aus dem Johannes-Evangelium genährten - 
christlichen Glaubens sozusagen schlucken, und letztlich baute Konstantin darauf 
die "Geburt" der katholischen Kirche auf. Es ist hierbei schon auch interessant, 
dass selbst Irenäus die Sache ein bisschen komisch vorkam. Aber er musste eine 
Gemeinsamkeit definieren, auf der beruhend sich die Christenheit "unbedrängt" 
erweitern könne, um sich in alle Weltgegenden zu verbreiten (dies gelang ihm, 
wie wir wissen, mit geradezu bombastischem Erfolg). Die Anfeindungen sollten ein 
Ende haben, und da musste es gut sein, einen Codex zu installieren, der 
allgemeingültig präsent sei.
Das neue Testament existiert nunmehr 
also schon seit Jahrhunderten in der bestehenden Form, und daran wird kaum noch 
gerüttelt werden. Allerdings blieben bei der seinerzeitigen Kanonisierung einige 
Texte (u.a. das Thomas-Evangelium!) ausgespart, und das Johannes-Evangelium 
wurde zum wichtigsten der Evangelien erklärt. Wer im neuen Testament 
liest, muss sich darüber im Klaren sein, dass er nur einen Ausschnitt aus dem 
vielfältigen Fundus christlicher Erfahrungen und Erkenntnisse vor sich hat. Mit 
vielen Formen gelebten Urchristentums könnten sich Menschen heutzutage 
anfreunden. Aber selbst die sektierischen Bewegungen und "freikirchlichen" 
Gemeinschaften orientieren sich hauptsächlich am Johannes-Evangelium. Die von 
einigen renommierten Theologen in früheren und gegenwärtigen Zeiten proklamierte 
Aussage: "Die Kirche in der jetzigen Form muss untergehen, damit eine neue 
Kirche entstehen kann" könnte sich dann verwirklichen, wenn das 
Johannes-Evangelium an Bedeutung verliert und andere apokryphe Schriften 
(hervorzuheben ist natürlich das Thomas-Evangelium) einen höheren Stellenwert 
zuerkannt bekommen. Da dies von der katholischen Kirche nie initiiert werden 
wird, ist die Aussage dementsprechend deutbar.
Ich habe selten ein 
theologisches Buch mit soviel Inbrunst und innerem Gewinn gelesen.
  Es sei allen Menschen anempfohlen, die weder mit der katholischen Kirche noch 
  mit den im Johannes-Evangelium definierten Eigenheiten (die im Übrigen von den 
  drei synoptischen Evangelien, wie geschrieben, eklatant abweichen!!!) einverstanden 
  sind bzw. daraus keinen Glauben ableiten können.
(Jürgen Heimlich; 09/2004)
Elaine Pagels: "Das Geheimnis des fünften Evangeliums.
Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt"
Aus dem Englischen von Kurt Neff.
Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck, 2004. 239 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2006.
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Elaine Pagels, Professorin für 
Religionswissenschaft an der Princeton University, ist als Expertin für die 
Funde von Nag Hammadi und die Geschichte des frühen Christentums international 
renommiert. Für ihr bahnbrechendes Buch über die gnostischen Evangelien 
"Versuchung durch Erkenntnis" (1981) wurde sie vielfach ausgezeichnet.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Apokalypse. Das letzte Buch der Bibel wird entschlüsselt"
Die Offenbarung des Johannes gibt viele Rätsel auf: 
Was bedeutet die Zahl 666? Wer ist die große Hure Babylon? Wie kündigt sich das 
Weltende an? Und wer hat das Buch überhaupt geschrieben? Elaine Pagels 
betrachtet die Schrift im Vergleich mit anderen frühchristlichen Apokalypsen, 
erklärt ihre einzigartige politische Bedeutung und bietet so einen neuen 
Schlüssel zum Verständnis des geheimnisvollsten Buches der Bibel.
Das Buch mit den sieben Siegeln und die Apokalyptischen Reiter, die Synagoge des 
Satan und das Lamm Gottes, das Tausendjährige Reich, der kosmische Endkampf und 
das Jüngste Gericht: Was wäre das Christentum ohne diese Bilder, Hoffnungen und 
Ängste, die sich alle in der Offenbarung des Johannes finden? Und doch galt 
dieses ursprünglich jüdische Buch lange als häretisch.
Elaine Pagels zeigt, wie es am Ende des ersten Jahrhunderts entstanden ist, wer 
die Anhänger der unterschiedlichen Offenbarungen waren und warum ihre Schriften 
unterdrückt und bis zu ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert vergessen 
wurden. Was die Johannes-Apokalypse als einzige rettete, war ihre flexible 
politische Einsetzbarkeit: Die "Bösen" waren ursprünglich die Anhänger des 
Apostels Paulus, konnten aber auch die Juden, Römer, Häretiker oder Heiden sein. 
Krieg, Verfolgung und Katastrophen erhalten durch die Apokalypse plötzlich einen 
Sinn. Gerade das macht sie bis heute zum allergefährlichsten Buch der Bibel. (C. 
H. Beck)
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"Satans Ursprung"
Elaine Pagels verfolgt
die Geschichte Satans von seinen ersten Auftritten im Alten Testament bis 
ins Neue Testament. (Suhrkamp)
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