Katharina Ceming / Jürgen Werlitz: "Die verbotenen Evangelien"

Apokryphe Schriften


Wenn wir heute das neue Testament aufschlagen, scheint es selbstverständlich zu sein, was uns da entgegenleuchtet: Die drei synoptischen Evangelien (Lukas, Markus und Matthäus), das mit gnostischen Anteilen durchzogene Johannes-Evangelium sowie die Offenbarung des Johannes, die Apostelgeschichte des Lukas, und diverse Briefe, von denen die paulinischen von besonderer Bedeutung sein mögen.

Es hat allerdings recht lange gedauert, bis die Kanonisierung der neutestamentlichen Inhalte abgeschlossen war und die vorliegende Gesamtschau von Heilsbotschaften vorlag.
Zunächst einmal galt es im Urchristentum, in den neugegründeten Gemeinden Jesu Botschaft und Gottessohnschaft zu verkündigen. Je näher eine Heilsbotschaft dem Wirken und der Passion Jesu in ihrem historischen Kontext lag, desto eher wurde sie baldigst von der Großkirche für würdig befunden, in das neue Testament aufgenommen zu werden. Weiters fanden nur jene Texte Beachtung, die regelmäßig in Gottesdiensten vorgetragen worden sind. Hatten diese aber auch nur den winzigen Anschein von Häresie, mussten sie freilich sofort aus dem Kanonisierungsprozess ausgeschlossen sein.

Die für "würdig" befundenen Zeugnisse christlicher Tugenden und jesuanischen Wegbekundungen fanden also Aufnahme in den Kanon des neuen Testaments. Es wurde einzig und allein darauf geachtet, die historische Einzigartigkeit und Größe von Jesus darzustellen und dessen Dasein in ein göttliches Licht zu setzen, das nicht nur nach außen strahlt, sondern mehr noch in sich selbst begründet ist (Trinitätslehre). Die Menschen mochten "erlöst" werden, insofern sie sich den Christen anschlossen. Daraus folgt, dass alles, was nicht in dieses Schema passte, verpönt bzw. ausgeschlossen war. Darin sind auch die Schwächen der drei synoptischen Evangelien zu sehen: Es sind einige Ungenauigkeiten enthalten, die eine direkte Zeugenschaft der Schreiber so gut wie ausschließen. Dennoch wurde lange Zeit nicht bezweifelt, dass die unmittelbare Nähe der Autoren zu Jesu aus den Texten hervorgeht.

Apokryphe Evangelien sind jene Heilsbotschaften, die es nicht in den Kanon des neuen Testaments schafften, wenngleich es mehrere Einsprengsel ebenjener in der Heiligen Schrift gibt.

Höchst erstaunlich ist etwa die Darstellung des Weihnachtsgeschehens, die so vertraut und selbstverständlich erscheint, dass ihre Nichtüberlieferung durch die synoptischen Evangelien kaum bewusst ist. Die Kirche pflegt den Brauch mit der Krippe unter dem Christbaum, wenngleich die zugrunde liegende Erzählung apokryphen Ursprung aufweist.

Die "verbotenen Evangelien" sind nur zum Teil als gnostisch anzusehen. Mehrheitlich handelt es sich um Ergänzungsmotive, die zur Entstehung dieser Texte geführt haben. Die Sicherung der eigenen Tradition einer Gemeinde spielte neben der kanonisierten oder im Kanonisierungsprozess befindlichen Tradition eine erhebliche Rolle. Beispielhaft hierfür ist die Petrus-, Thomas-, und Johannestradition in Syrien. Oftmals hatte die Person, auf die man sich berief, eine ungeheure Autorität, da man sie direkt mit dem Jüngerkreis Jesu in Verbindung brachte.

Im nunmehr besprochenen Buch werden die Geschichte der Kanonisierung sowie die Motive für die Entstehung der Apokryphen leicht verständlich dargestellt. Außerdem gilt das Hauptaugenmerk freilich den enthaltenen apokryphen Schriften, die jeweils mit einer geschichtlich fundierten Einleitung versehen sind. Völlig außen vor gelassen werden tiefenpsychologische Komponenten, denen moderne Theologen sehr viel Aufmerksamkeit schenken und deren Bedeutung als wesentlich einzustufen ist (Eugen Drewermann sei diesbezüglich als der wichtigste deutschsprachige Vertreter angeführt).

Hervorheben möchte ich "Das Kindheitsevangelium des Thomas" und "Das Petrusevangelium". Bei Ersterem ist bemerkenswert, dass die frühkindliche Phase von Jesus legendenhaft dargestellt wird. Es ist im "autorisierten" Kanon nichts davon zu lesen, wie es Jesus als Kind im Alter von fünf bis zwölf Jahren erging. Jesus wird als besserwisserischer Bengel beschrieben, der dazu in der Lage ist, "Wundertaten" zu vollbringen (etwa Holz lang zu ziehen, oder Kinder "auferstehen" zu lassen), auf der anderen Seite jedoch einigen Menschen den Tod bringt, indem er seltsame Flüche ausstößt. Diese Geschichte liest sich recht eigen, und irgendwie ist nachvollziehbar, warum sie nicht in den Kanon aufgenommen wurde. Tatsächlich argumentierte die Großkirche damit, dass "Erfindungen" keine Berechtigung haben, Eingang ins neue Testament zu finden.

"Das Petrusevangelium" hat weniger fantastische Elemente; entscheidend sind die doketischen Züge, welche ein Dasein als apokryphe Schrift begründen. Jesus wird bei der Kreuzigung ohne Schmerzempfindung dargestellt. Der präexistente Herr verließ im Moment seines Todes seinen "Scheinleib", was aus dem Satz "Meine Kraft, meine Kraft! Du hast mich verlassen" (5,19) abgeleitet werden kann. Trotz seiner ansonsten auf frühe Überlieferung hinweisenden Elemente ist das "Petrusevangelium" im Ganzen ein von den kanonischen Evangelien abhängiges, späteres Werk.

Das nunmehr gleich zu Ende besprochene Buch eignet sich hervorragend für Einsteiger in bibelwissenschaftliche Grundlagen, da der Kanonisierungsprozess recht ausführlich und trotz der Kürze fundiert dargestellt ist. Die apokryphen Elemente sind Ausschnitte aus einer immensen Anzahl von Texten, die nie auch nur in die Weite der Aufnahme in Kanon oder Kanonisierungsprozess kamen. Auch die Geschichte der Auffindung der apokryphen Schriften wird kurzweilig beschrieben. Jeder theologisch interessierte Mensch kann seinen persönlichen Nutzen aus den "verbotenen Evangelien" ziehen und dies vielleicht zum Anstoß nehmen, den eigentlichen Kanon umso genauer unter die Lupe zu nehmen.

(Jürgen Heimlich; 08/2004)


Katharina Ceming / Jürgen Werlitz: "Die verbotenen Evangelien"
Marixverlag, 2004. 208 Seiten.
ISBN 3-937715-51-7.
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