Dimitré Dinev: "Ein Licht über dem Kopf"

Erzählungen


Der Taxifahrer im literarischen Universum

Wenn man ein neues Buch zu lesen beginnt, merkt man manchmal beglückt schon an den ersten Sätzen, dass es sich dabei um Weltliteratur handelt. Und dann gibt es Bücher, bei denen man schon bei den ersten Sätzen merkt, dass sie keine Weltliteratur sind, noch jemals Hoffnung haben, es zu werden. Und das ist dann traurig, komisch oder ziemlich irritierend.

Wie steht es nun mit Dimitre Dinev? Der 1968 in Plovdiv, Bulgarien geborene Philologe schreibt - wie ich diversen Webseiten entnehme - seit 1991 Drehbücher, Erzählungen, Theaterstücke und Essays in deutscher Sprache, die offenbar bei vielen gut ankommen. Er hat 2002 den Mannheimer Literaturpreis erhalten, 2003 den Förderungspreis der Stadt Wien, 2004 das österreichische Staatsstimpendium und den Förderpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und 2005 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung. Anlässlich seines Erstlingsromans "Engelszungen" (2003) bekannte Meike Fessmann in der Süddeutschen Zeitung "einen überzeugenden Beleg für die Fruchtbarkeit der Immigrantenliteratur" gefunden zu haben. Dinevs Prosa sei "von lässiger Opulenz, die das Alltägliche mit dem Literarischen so selbstverständlich verbindet, als wäre es das Natürlichste der Welt."

Anlässlich dieser tatkräftigen Unterstützung seitens anerkannter Institutionen und literarkritischen Größen wird es der Autor verschmerzen, wenn ich hier bekenne, dass ich mich selten so gelangweilt beziehungsweise geärgert habe wie bei der Lektüre des Erzählbandes "Ein Licht über dem Kopf".

Schon die ersten Sätze der ersten Geschichte sind Symptom. Sie heißt "Wechselbäder" und beginnt so: Die Zeiten waren wechselhaft. Man wechselte Fahnen, Wappen und Uniformen. Man wechselte die Namen der Städte, Straßen, Schulen und Sportplätze, der Parks, Krankenhäuser und Fabriken, und wenn man keinen geeigneten Namen für die Fabriken fand, schloss man sie wieder. Originell? An der Oberfläche vielleicht schon. Das Leitmotiv ist das Wechseln. Man lebt im Ostblock nach der Wende. Einige Insignien der Staatsmacht sind damals, das gestehe ich gerne ein, durchaus gewechselt worden, aber waren es denn alle? Und ist der Ausdruck wechseln überhaupt richtig, wenn man vom Kommunismus künstlich aufgepfropfte Namen wieder zurücknimmt? Wäre es nicht treffender gewesen, zu sagen: Es war eine Zeit der Rückbesinnung, in der alte, ehrwürdige Namen wieder in ihr Recht eintraten? Wer von der Erleichterung der Bevölkerung gehört hat, als Karl-Marx-Stadt endlich wieder Chemnitz heißen durfte, denkt dabei nicht "Wechsel" sondern "Heilung". Die Unschärfe dieses beginnenden Satzes mündet in einem völlig schiefen Bild. Fabriken wurden in den frühen 1990er Jahren nicht geschlossen, weil man keinen geeigneten Namen für sie finden konnte, sondern eher, weil sie unrentabel waren. Der Satz"Und wenn man keinen geeigneten Namen für die Fabriken fand, schloss man sie wieder" ist deshalb nicht nur läppisch, sondern auch falsch. Und das ärgert mich, weshalb ich den Satz auch nicht als Pointe begreifen kann, obwohl er offenbar so gemeint ist. Das Buch trumpft auf der ersten Seite mit dem ersten Absatz leitmotivisch auf. Und das mit einem dämlichen Absatz.

Mein Unwille über den Beginn stammt auch daher, dass ich nach Lektüre des gesamten Buches nicht den Eindruck hatte, wirklich etwas Authentisches oder Treffendes aus dem Ostblock erfahren zu haben, sondern dass sich die Ostblockländer der 1980er und 1990er - vor allem Bulgarien - literarisch der Erzählabsicht des Autors anpassen müssen. Weil seine Geschichte "Wechselbäder" heißt, wird diesem Leitmotiv alles untergeordnet. Es ist die Geschichte eines entwurzelten Lebenskünstlers, der zuletzt verrückt wird. Warum, kann Dinev in der Folge nicht erklären. Er schildert nur, und das mit schiefen Bildern und in einem knappen Tonfall, der sparsam wirken soll, aber verkrampft wirkt.

Es folgt als zweites die Geschichte "Die Handtasche", wahrscheinlich die beste Geschichte im ganzen Band. Pate standen Autoren wie Heimito von Doderer oder Milo Dor. Eine aus der Haut von dreizehn unschuldigen Männern verfertigte Handtasche wird über Generationen weitergereicht. Es war das Liebesgeschenk eines korrupten Polizisten gewesen und bringt einerseits Liebe und andererseits Tod. Die Geschichte hat einige hübsche expressionistische Einfälle. Neben der eben skizzierten, durchaus pfiffigen Grundidee bietet sie allerdings dann eine Überfülle von Stilblüten, die den literarischen Ehrgeiz des Autors dokumentieren, und das so lange, bis man genug hat. Das ist schlecht für eine gute Geschichte.

Ich will jetzt einmal aus dem Buch einzelne Stilproben zur toxikologischen Untersuchung entnehmen. Die Auswahl erfolgt nach dem Zufallsprinzip, nicht nach Schweregrad.

1.

"Der Himmel war von Sternen, die Decke von Motten zerfressen, und durch die kleinen Löcher drangen so viele Lichter, dass ihre Zahl keiner von beiden zu fassen vermochte." Zwei Liebende im Bett, und ich habe keine Ahnung, was hier gemeint ist. Phosphoreszierten die Körper der Liebenden, oder guckten sie von innen aus der Decke heraus auf etwas Helles? Irgendwie albern, den Sternenhimmel als "zerfressen" zu bezeichnen, nur weil es Motten gibt ... und irgendwie albern, dass keiner von beiden imstande gewesen sein soll, die Zahl zu "fassen". Wenn Liebende lieben sind Mottenlöcher in Decken ja eigentlich eher kein Thema, oder?

2.

"Wie ein Rauch stieg die Stimmung immer höher und höher." Schlechtes Simile. Warum EIN Rauch? Und Rauch steigt nicht immer höher, sondern breitet sich irgendwann einmal aus. Und Stimmung steigt zwar, aber soll sie wirklich zerfasern und sich auflösen wie Rauch? Wie eine Rakete wäre vielleicht ein besseres Bild gewesen.

3.

Von einem Major heißt es: "Seine behaarten Finger schienen nachdenklich wie die Köpfe der zehn Geschworenen." Der Satz ist so blöd wie der Speichel aus dem Mund von zwölf sabbernden Idioten, denn es gibt in der betreffenden Geschichte gar keine Geschworene, weshalb der bestimmte Artikel einfach nicht passt.

4.

"Er war sechsunddreißig Jahre alt, aber im Schlaf schaute er älter aus, weil er gerade träumte und in seinen Träumen erlebte er Dinge, die entweder nie oder erst später geschehen sollten." Der Satz giert stilistisch nach Aufmerksamkeit. Sehen Menschen älter aus, wenn sie träumen? Die Realität sagt uns: Nein. Sie zucken vielleicht, oder grimassieren. Ich habe noch keinen grauhaarig werden sehen, wenn er in die Traumphase geht. Außerdem kann man in Träumen nicht wirklich erleben, und was man geträumt hat, wird später nie geschehen, sondern nur etwas Ähnliches. Was soll der ganze Mist also? Wenn man von Dingen träumt, die nie geschehen werden, warum soll man dabei älter aussehen? Es sind Sätze wie die, von denen ich im Schlaf älter aussehe.

5.

"Still vergingen die Jahre. Still maturierte Sofie, noch stiller war sie zu Hause. Nur ihre Weiblichkeit schrie." Wenn ich mir schreiende Weiblichkeit einer Stummen vorstelle, kommen Bilder heraus, die ich hier lieber verschweige.

6.

"Ihre Lippen, ihre Augenbrauen und Wimpern kamen wie von einer langen Reise zu ihr zurück, und Sofie begegnete ihnen mit Freude. Sie ging von zu Hause fort. Sie hatte zu essen vergessen. So wie die Engel." Diese Abfolge von Wörtern beginnt mit einem gewagten poetischen Simile. Nach einer langen Reise sind Menschen abgeschlafft, übermüdet, vielleicht auch etwas grantig, und ihre Kleider sind staubig. So kehrten Körperteile zu Sofie zurück. Gottseidank freute sie sich, aber musste sie gleich wieder fortgehen? Die Lippen, Augenbrauen und Wimpern waren doch hundselend vom vielen Reisen, und mussten schon wieder weg. Engel vergessen übrigens nie zu essen, weil sie immateriell sind. Was kümmert das den Autor? Hat er einmal ein schiefes Bild gefunden, ist er darüber so glücklich, dass er es nicht wieder los lässt.

Man sieht die Tendenz. Dinev ist ein Autor, der sich wenig Gedanken darüber macht, was er schreibt, aber viel Gedanken darüber, Eindruck zu machen. Er hat ein wenig über die Parallelgesellschaft der Einwanderer in Wien zu sagen. Was hier als Erzählband vorliegt, ist eigentlich ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Texte mit mattem Ironiepotenzial, aus denen ein begabter Schriftsteller wie Wladimir Kaminer wahrscheinlich Perlen gemacht hätte. Ich kann verstehen, dass manche Menschen sagen: Slawischer Name, Immigrantenschicksal, gebt dem Mann eine Chance. Auch ich gönne ihm sein Licht über dem Kopf: Das Leuchtschild auf dem Dach des Wagens, von dem er fabulierte. Einige Jahre als Taxifahrer in Wien, und die Realität könnte auch aus Dinev einen Autor gemacht haben, den es zu lesen lohnt.

(Berndt Rieger; 03/2005)


Dimitré Dinev: "Ein Licht über dem Kopf"
Deuticke im Zsolnay Verlag, 2005. 192 Seiten.
ISBN 3-552-06000-6.
ca. EUR 18,40.
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Dimitré Dinev, geboren 1968 in Bulgarien, besuchte das Bertolt Brecht-Gymnasium in Plovdiv, ab 1986 erste Veröffentlichungen in bulgarischer, russischer und deutscher Sprache. 1987/89 Armeedienst, 1990 Flucht nach Österreich. Seit 1991 Studium der Philosophie und der russischen Philologie in Wien, seit 1992 Drehbücher, Übersetzungen, Theaterstücke und Prosa in deutscher Sprache, zahlreiche Auszeichnungen und Literaturpreise. Dimitré Dinev lebt als freier Schriftsteller in Wien.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Engelszungen"

Engelszungen ist ein Roman, der von der Kühnheit der Genialität lebt. Wer würde wagen, eine Geschichte zu erzählen, in der zwei Einwanderer aus Bulgarien und ein Ex-Jugoslawe, der, nebenbei bemerkt, bereits verstorben ist, die Hauptrollen spielen?
Wobei freilich auch noch zu erwähnen ist, dass Miro, unser toter Serbe, als Engel der Einwanderer vom Wiener Zentralfriedhof aus amtiert, während Svetljo und Iskren in ihrem Leben nichts ausgelassen haben, was in die falsche Richtung führt. Nun ist ein Engel, an den sie beim besten Willen nicht einmal selbst so richtig glauben können, ihre letzte Hoffnung. Auf der Suche nach einem besseren Leben, so stellt sich heraus, reden wir in unserer Verzweiflung gerne auch mit einem toten Serben, und Engel, die auf Gräbern hocken und mit Handys agieren, erscheinen ab irgendeinem Punkt völlig normal.
Man merkt Dimitré Dinev an, dass er die großen russischen Meister der Erzählkunst genau studiert hat: mit einem Federstrich entwirft er ein Universum. (Deuticke)
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Leseprobe:

Es geschah an einem Frühlingstag. Er saß auf einer Bank, rauchte und beobachtete, wie zwei Arbeiter die Straßenschilder auswechselten und wie aus Boulevard Lenin Boulevard König Boris III. wurde. Er beobachtete, wie die Vögel sich auf dem Boulevard niederließen und die Straßenköter sich hinlegten. Vögel und Hunde kümmerte es nicht, ob sie sich auf einem Boulevard namens Lenin oder König Boris eine Ruhepause gönnten. Ihn schon. Da begriff er zum ersten Mal, daß er weder wie die Vögel noch wie ein Hund leben wollte. Er begriff, daß man jeden Tag arbeitete und trotzdem am nächsten Tag ärmer als zuvor erwachte. So waren die Zeiten. Er hatte sie erkannt. Nichts war mehr so wie zuvor. Und wahrscheinlich war es auch nie anders gewesen. Von da an liebte er die Abwechslung.

Als erstes wechselte er seine Kleidung. Statt einem Sakko zog er eine Sportjacke, statt den Schuhen Sportschuhe an. Statt in die Lottostube zu gehen, ging er zur Bank einer benachbarten Stadt. Statt seinem Gesicht trug er eine Maske, statt einem Kugelschreiber eine Pistole. Statt dem Glück hinterherzuhinken, lief er ihm mit Geld in den Händen entgegen. Die Miliz befand sich gerade in Umwandlung, aus ihr sollte die Polizei werden. An dem Tag gab es weder einen Milizionär noch einen Polizisten in der Nähe der Bank. So waren die Zeiten. Wechselhaft. Ein Glück, daß er sie so früh erkannt hatte. So hatte alles begonnen. So war er ans Geld herangekommen. Ursprünglich wollte er mit diesem Geld im Ausland eine Operation für seine Tochter bezahlen. Oder einfach einen Stapel Geldscheine unter ihr kleines Füßchen schieben, damit sie gerade stehen konnte. Aber er fuhr nicht mehr nach Hause. Er war schon in die Abwechslung verliebt.

In Wirklichkeit hieß er Vassil Gelev und hatte in einer kleinen traurigen Stadt eine Frau und eine Tochter, der ein kleines Stapelchen Geld unter ihrem rechten Füßchen fehlte, um die Erde zu erreichen. Aber was ist schon die Wirklichkeit. War denn Stojan Wetrev, der drei Wechselstuben, zwei Leibwächter, einen Freund und keine Sorgen hatte, weniger wirklich? Nein. Denn nichts war wirklicher als die Veränderung. So dachte Stojan und war zufrieden. Er liebte die Zeiten, in denen er lebte. Die Frauen liebte er auch, denn sie waren für ihn wie die Zeiten. Sie wechselten oft ihre Meinungen und Stimmungen. Er hatte mal versucht, sie zu verstehen. Es war ihm aber nicht gelungen.

"Ich liebe dich", hatte ihm Maja, seine erste Liebe, unter den Linden des Boulevards Lenin gesagt.

"Ich liebe dich nicht", meinte sie zwei Wochen später unter denselben Linden. Er hatte damals immer noch dasselbe Gesicht, dasselbe Herz und dieselben Gefühle, trotzdem liebte sie ihn nicht mehr. Er verstand das damals nicht. Heute dagegen wollte er die Frauen nicht mehr verstehen. Heute liebte er sie nur noch. Sie liebten ihn, dann liebten sie ihn wieder nicht. Das war alles, was er über sie wußte. Deswegen merkte er sich auch schwer ihre Namen. Er sagte auch nie einer Frau, daß er sie liebte, denn kaum war er mit ihr, liebte er schon die nächste. Denn nichts liebte Stojan Wetrev mehr als die Abwechslung.

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