Margriet de Moor: "Sturmflut"


In der Nacht auf den 1. Februar 1953 kam es durch das gleichzeitige Auftreten einer normalen Springflut und eines zusätzlichen Jahrhundertsturms zu einer katastrophalen Sturmflut, die in den südlichen Provinzen Hollands, Zeeland, Zuid-Holland und Nord-Brabant 1853 Menschen das Leben kostete. Ganze Landstriche verschwanden innerhalb von Stunden für immer von der Landkarte. 70 000 Menschen mussten evakuiert werden. 200 000 Nutztiere ertranken in der Flut, 3000 Wohnungen und 300 Höfe wurden vollständig zerstört oder weggeschwemmt. Insgesamt wurden damals 200 000 Hektar Ackerland überflutet und durch das Salzwasser für eine lange Zeit unfruchtbar gemacht. Zehn Prozent der niederländischen Ackerfläche war damit verloren.
Für die Niederlande bedeutete dieses Unglück knapp acht Jahre nach den furchtbaren Leiden, die dieses kleine Land durch Nazi-Deutschland erleben musste, eine nationale Katastrophe, die bei den Menschen, die sie damals miterlebt haben, bis heute eine tiefe Wirkung hinterlassen hat.
Nach dieser Sturmflut unternahmen die Niederlande bisher nicht für möglich gehaltene Anstrengungen, dass ein solches Unglück nie mehr geschehe. Gigantische Sperrwerke und eine immer ausgeklügeltere Deich- und Entwässerungstechnik wurden ausgedacht. Heute, angesichts drohender Erhöhung der Meeresspiegel durch die sogenannte Klimakatastrophe, ist das Thema so aktuell wie nie.

Ob es auch solche Gedanken waren, die Margriet de Moor bewogen haben, nach einem erfolglos gebliebenen Versuch vor einigen Jahren, sich erneut dem Thema dieser Sturmflut zuzuwenden, wissen wir nicht.
Tatsache ist, dass ihr mit "Sturmflut" ein Roman gelungen ist, der das Schicksal zweier Schwestern und ihrer Familie geschickt verknüpft mit einer dramatischen und an Spannung nicht zu überbietenden Schilderung eines Geschehens, dessen Beschreibung allein schon großes schriftstellerisches Können voraussetzt.

Das Buch handelt von Lidy, der älteren und von Armanda, der jüngeren Tochter einer angesehenen Arztfamilie. Lidy ist verheiratet mit Sjoerd, einem Bankangestellten mit großen Karriereaussichten und hat eine kleine Tochter, Nadja, die sie früh geboren hat. Armanda ist noch Jungfrau, wartet ungeduldig auf den Richtigen und ist Patentante eines siebenjährigen Mädchens in Zieriksee, einer kleinen Stadt auf Duiveland  (von der Flut später besonders hart betroffen).
Armanda soll am 1.2.1953, so wie jedes Jahr an diesem Tag, ihr Patenkind zum Geburtstag besuchen, hat aber keine Lust und will lieber auf eine Party von Sjoerds Halbschwester gehen. Sie überredet Lidy, an ihrer Stelle auf die Insel zu fahren.

Tidy lässt sich darauf ein. Sie fährt halt gerne Auto. Während sie, schon bei heftigem, orkanartigem Sturm, auf der Geburtstagsfeier neue Leute kennen lernt, unter anderem den Deichgrafen Simon Cau, amüsiert sich Armanda auf der Party mit Sjoerd. Es prickelt zwischen ihnen. Der Ehebruch liegt in der Luft.

Und nun komponiert Margriet de Moor einen Roman, der einen Spannungsbogen zieht zwischen dem Überlebenskampf von kaum einem halben Dutzend Menschen (unter ihnen Lidy und Simon Cau) in der Nacht zum 1.2.1953 und den beiden folgenden Tagen und dem Leben der Familie nach der Katastrophe. Sie wechselt zwischen beiden Orten und den Menschen hin und her. Verrinnen dort in der Flut zwischen den einzelnen Szenen manchmal nur Minuten, und wird so die spannende Frage lange offen gehalten, ob Lidy gegen alle Wahrscheinlichkeit überleben wird, springt die Handlung hier zunächst in Tagesschritten, dann in Monaten und zuletzt in Jahrzehnten bis zum letzten Dialog der beiden Schwestern in Armandas Altersheim.

So bewahrheitet sich der Satz, den Armanda innerlich am Tag, als Lidys vermutliche, bei Bauarbeiten für einen Deich im Schlick gefundene sterbliche Überreste bestattet werden, an ihre Schwester richtet: " Viel zu viel von dir hat sich in mir angehäuft, Lidy. Deinetwegen konnte ich nie die sein, die ich war."

Margriet de Moor hat extrem sorgfältig recherchiert für diesen Roman, um besonders die das Buch dominierenden Szenen um Lidy und ihre zufällige Schicksalsgemeinschaft von dem Tod Geweihten zu schildern. Besonders der augenfällige Gegensatz, wie hier innerhalb von Stunden alle früheren Bindungen hinfällig werden, und dort die Menschen noch nach Jahrzehnten mit der zwiespältigen Bindung an Lidy und der Tatsache des anfänglichen Tausches nicht wirklich abschließen können.

Zwei Bemerkungen eher negativer Art kann sich der Rezensent zu dem von Helga van Beuningen großartig übersetzten, außergewöhnlichen Roman nicht verkneifen. Im ersten Teil des Buches gefällt sich de Moor mit einer gestelzt und seltsam artifiziell wirkenden Sprache. Beispiel: "Die See, soweit sie wussten, noch nie so weit vorgedrungen, war, fanden sie, wie ein wild gewordenes Tier hinter ihren Schultern eingesperrt. " (Seite 123).
Und sie ist ebenso im ersten Teil des Buches regelrecht verliebt in Partizipialkonstruktionen, die sie kompliziert in Nebensätzen verschachtelt. Es bleibt absolut unklar, was sie mit beiden "Kunstgriffen" erreichen will, zumal sie in der Mitte des Buches plötzlich davon die Finger lässt, ohne dass die Handlung dies nahelegen würde.

Das schmälert aber nicht die große Substanz dieses Buches, das nur zu empfehlen ist.

(Winfried Stanzick; 02/2006)


Margriet de Moor: "Sturmflut"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Hanser, 2006. 352 Seiten.
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Margriet de Moor, geboren 1941, studierte in Den Haag Gesang und Klavier. Nach einer Karriere als Sängerin, vor allem mit Liedern des 20. Jahrhunderts, studierte sie in Amsterdam Kunstgeschichte und Architektur.

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