Sue Chun: "China Girl"


Chun Sue ist einer jener Namen, mit denen die 1984 geborene Autorin Lin Jiafu durch das China ihrer Jugend ging und unter dem sie einige Interviews in Jugendmusikmagazinen veröffentlichte.

In ihrem autobiografischen Roman "China Girl", der den Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert in ihrem Leben beschreibt, stellt sie einen Abschnitt ihrer späteren Jugendlichenzeit dar und konnte diesen nur mit einiger Mühe bei einem Verlag unterbringen. In China löste das Buch einerseits wegen seiner Offenheit in sexuellen Dingen einen Skandal aus, obwohl sich diese Offenheit eher auf die angedeutete Promiskuität als auf tatsächliche erotische Darstellung bezieht, und andererseits seiner Auflehnung gegen traditionelle Werte der chinesischen Gesellschaft wegen. Darum wurde wohl - nach Angabe des deutschen Verlegers - in China kurz nach seinem Erscheinen die weitere Verbreitung verboten. Der deutschsprachige Leser wird wohl Schwierigkeiten haben, dieses Buch für skandalös zu halten.

Die Darstellungen des chinesischen Schul- und Jugendlichenlebens sind interessant und in vielerlei Hinsicht erhellend, aber in erster Linie ist "China Girl" kein rebellischer, sondern ein relativ normaler Roman über einen durchgedrehten Jugendlichen, wie es ihn zu Millionen gibt. Mit der typischen Egozentrik des Jugendlichen, der sich ständig missverstanden fühlt, legt sich Chun Sue mit den Eltern, den Lehrern und ihren Altersgenossen an, während sie einmal die Schule schmeißt, einmal zurück geht und sich ständig in der Punk- und Rock'n'Roll-Szene Pekings herumtreibt. Dabei kommt ihr zugute, dass sie auf Grund ihrer hohen Intelligenz in der Schule stets schnell den Anschluss findet und darüber hinaus immer wieder andere junge Männer an sich zu binden weiß, die es ihr ermöglichen, für eine gewisse Zeit in der Musikszene zu überleben, bis sie schließlich aus Geldmangel erneut bei ihren Eltern auftaucht.

Leidgeprüfte Eltern bekommen hier einen guten Einblick in die Psyche ihrer pubertierenden Kinder und dies gründlicher als in dem entsprechenden "GEO"-Artikel über die Enträtselung des Jugendlichengehirns. Wirkliche Erkenntnisse zum "Umbruch" in China, den einige Leute heutzutage herbeizureden versuchen, finden sich in diesem Buch aber eher nicht.

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung von "China Girl" war Lin Jiafu 17 Jahre alt. Es ist zu hoffen, dass sie die motivationale Leere und emotionale Flachheit, die ihre Erzählerin in diesem Roman kennzeichnet, inzwischen überwunden hat.

Neben der sehr gelungenen Darstellung der Denkweise eines pubertierenden Gehirns wird die Erzählung immer wieder durch Gedichte unterbrochen, die aber nicht alle von der Autorin selbst stammen. Diese sind zum Teil interessant zu lesen, zum Teil aber auch wie das, was man in einem durchschnittlichen Poesiealbum an einem Gymnasium finden kann. Insgesamt eine etwas durchwachsene Leseerfahrung.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2006)


Sue Chun: "China Girl"
Originaltitel "Beijing Doll")
Übersetzt von Karin Hasselblatt.
Goldmann Verlag, 2006. 285 Seiten.
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