Philip Reichardt: "Auf einmal war er nicht mehr da"

Ein Sohn, ein Vater, eine Spurensuche


"Die Vergangenheit seiner Eltern zu kennen, heißt nicht, sie zu idealisieren, sondern schafft erst die Voraussetzung dafür, sich von ihr lösen zu können und sie nicht wie ein unsichtbares Erbe ein Leben lang mit sich herumschleppen zu müssen. Zu begreifen, inwieweit und wann man sich von ihnen unterscheidet, wie sie Einstellungen prägten, und auf welche Weise Muster ihres Lebens sich im eigenen fortsetzen, heißt, die eigenen Spielräume zu vergrößern und die Chancen der eigenen Entwicklung zu erkennen. Es bedeutet, sich selbst aus der eigenen Geschichte heraus zu verstehen. Und die ist nun einmal untrennbar mit der der Eltern und ihrer Familien verbunden."

Mit dieser Erkenntnis wie aus einem familientherapeutischen Lehrbuch schließt Philip Reichardt ein interessantes Buch ab, in dem er genau diese Spurensuche unternommen hat. Nach dem Tod seines Vaters stößt er beim Sichten von dessen Unterlagen und beim Aufräumen der väterlichen Wohnung auf tausend Fragen; Fragen, von denen er sofort spürt, dass sie etwas mit seinem Leben zu tun haben.

Am Samstag hatten sie noch telefoniert, am Sonntagabend sprach der Vater auf die Mailbox des Sohnes, und am Montagmorgen erhält dieser die Nachricht vom Tod des Vaters.
Als er kurz darauf Abschied vom toten Vater nimmt, wird ihm schmerzhaft bewusst, wie wenig er eigentlich von ihm weiß und wie ihn diese Lücke neben vielen anderen Versäumnissen quält.

Und Philip Reichardt begibt sich in den folgenden Monaten auf eine ausgedehnte Spurensuche nach einem Vater, der ihm auch beruflich mehr Vorbild war, als er dachte, ohne dass ihm das vorher besonders bewusst geworden wäre.

Heraus kommt ein buntes Leben eines Mannes, dessen Jugend dunkel bleibt, obwohl der Sohn doch unbedingt wissen will, was der Vater im Krieg gemacht hatte, ob er auf einen Menschen geschossen und wie er das Ende des Krieges erlebt hatte. Doch da der Vater darüber nie auch nur ein Wort verlor, auch nicht in den Tagebüchern, die der Sohn neben anderen Quellen in den unzähligen Kisten des Vaters findet, bleibt diese Frage unbeantwortet. Dafür lichtet sich ein aufregendes Leben eines Menschen, der unglaublich viel erlebt hat und doch einsam war. Das Leben eines Journalisten und Chefredakteurs, (wer erinnert sich noch an die Zeitschrift "Jasmin"?), mit berühmten Prominenten und Sternchen zieht am Leser vorüber und verdeutlicht dem recherchierenden Sohn zunehmend, wer sein Vater war und welche Persönlichkeit und welcher Charakter ihn prägten.

"Auf einmal war er nicht mehr da" ist ein bewegendes Dokument, wie man einen Menschen gewissermaßen auch nach dessen Tod noch einmal ganz neu kennen lernen kann. Den Leser kann die Lektüre dazu ermutigen, zu Lebzeiten der eigenen Eltern die nötigen Fragen zu stellen, auch wenn das oft nicht möglich ist. Weder hinterlassen die meisten Menschen ein auch schriftlich dokumentiertes Leben, noch gestatten es die "Knoten" (R. D. Laing) in der Beziehung bzw. die sprachliche und psychische Unfähigkeit der beteiligten Personen.

Dennoch: ohne Klärung kein eigenes Leben. Da haben die Familientherapeuten und Familienaufsteller nach Ansicht des Rezensenten vollkommen recht. Es wäre kaum verwunderlich, gründete der Autor nun, nach dieser sehr anstrengenden Arbeit über den Vater und die Vorfahren, eine Familie und führte die Familienreihe der Reichardts fort.

(Winfried Stanzick; 03/2008)


Philip Reichardt: "Auf einmal war er nicht mehr da. Ein Sohn, ein Vater, eine Spurensuche"
Luchterhand Literaturverlag, 2008. 254 Seiten.
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Philip Reichardt, 1963 geboren, leitete vier Jahre lang "jetzt", das Jugendmagazin der "Süddeutschen Zeitung", und arbeitete zwei Jahre lang für "Die Zeit" in Berlin.