Alain Sayag, Annick Lionel-Marie: "Brassaï"

Das Auge von Paris

Eine neue Brassai-Monografie begleitet die aktuelle Ausstellung der Albertina


Die Brücken und Ufer der Seine im Nebel, menschenleere Passagen und Parks, Bahnhöfe und Metrostationen, die funkelnden Schaufenster der Boulevards, Bars und Jahrmärkte, Laternenanzünder und die Lastenträger in Les Halles, Gauner und Liebespaare, die Schönen der Nacht und ihre Kunden auf der Straße, im Bordell und im Stundenhotel - wie kaum ein anderer Fotograf hat Brassaï mit seinen Aufnahmen des nächtlichen Paris der 1930er Jahre eine romantische, aber auch frivole Welt festgehalten.

Was wie auf seinen Streifzügen durch die Großstadtnacht entstandene spontane Schnappschüsse wirken mag, als ob Brassaï einfach im rechten Augenblick den Finger am Auslöser gehabt hätte, ist oftmals eine überlegte Rekonstruktion der Wirklichkeit im Dienste der Wahrheit. Aus seinen zahlreichen Arbeitsberichten geht hervor, dass sich Brassaï häufig veranlasst sah, seine Aufnahmen zu inszenieren. Die Kundin einer Blumenhändlerin entpuppt sich als Freundin des Künstlers, der Verliebte im Café oder der Kunde im Bordell als Komparse. Neben rechtlichen und moralischen Gründen spielte dabei auch die Technik eine große Rolle. Unhandliche Geräte, lange, ein Stativ erfordernde Belichtungszeiten und die häufige Verwendung eines alles andere als diskreten Magnesiumblitzes ließen kaum Platz für Improvisationen, dafür aber experimentierte der Fotograf im Labor ausgiebig mit verschiedenen Bildausschnitten und Abzügen. "Nicht das Authentische ist die Angelegenheit der Kunst, sondern das Authentische auszudrücken", definierte Brassaï das Wesen seiner Arbeit.

1899 als Gyula Halász in der kleinen Stadt Brassó in Transsylvanien geboren, zog Brassaï nach dem Studium an der Akademie der Schönen Künste in Budapest nach Berlin, wo er u. a. Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka und Laszlo Moholy-Nagy begegnete. In Paris, wohin er 1924 übersiedelte, war er als Zeichner tätig und hatte sich Ende der zwanziger Jahre als freier Journalist etabliert, sah sich aber auch durch die Weltwirtschaftskrise veranlasst, sich nach neuen Erwerbsquellen umzusehen. Schon zuvor hatte er seinen Artikeln bei anderen Fotografen bestellte Aufnahmen beigefügt, doch nun wollte er selbst die Illustrationen liefern: "Sobald sich meine finanzielle Lage gefestigt hat, werde ich eine reportagetaugliche Kamera kaufen, um meine Fotos selbst zu machen."

In einem Vortrag im Jahre 1977 schilderte er die Gründe für sein erwachendes Interesse an der Fotografie allerdings ein wenig poetischer: "Um die Schönheit der Straßen, der Gärten, des Regens und des Nebels zu erfassen, um die Nacht von Paris zu erfassen, bin ich Fotograf geworden." Dem "Paris de nuit" widmete Brassaï (wörtlich "aus Brassó"), wie er sich nun nannte, 1932/33 auch seinen ersten Fotoband. Die Licht- und Schattenseiten der Seine-Metropole waren ebenfalls der Mittelpunkt weiterer Aufnahmen, die er danach für zahlreiche illustrierte Zeitschriften schuf, die schon in Titeln wie "Paris sex appeal", "Séduction" oder "Vive Paris scandale" ihren Bedarf an originellen und gewagten Abbildungen des Pariser Lebens verrieten. Doch auch zu weniger pikanten Themen wie einer Mitternachtsmesse in Baux-de-Provence, dem Weingut Mouton-Rothschild oder der Feria in Sevilla gestaltete Brassaï eindrucksvolle Reportagen, die so wie seine Künstlerporträts über Jahrzehnte im amerikanischen "Harper's Bazaar" veröffentlicht wurden.

Picasso, über den er 1964/65 mit "Conversations avec Picasso" eines seiner Hauptwerke veröffentlichte, Braque, Dalí, Matisse, Bonnard, Giacometti, Le Corbusier, Genet und andere Künstlerkollegen und Intellektuelle ließen sich und ihr Werk nicht nur von ihm fotografieren, sondern zählten teilweise auch zum Freundeskreis des umfassend gebildeten Wahlfranzosen. Zu den Surrealisten, für deren Zeitschrift "Minotaure" er Aufnahmen zur Verfügung stellte, hatte Brassaï ein zwiespältiges Verhältnis. Obwohl ihm "ihre Leidenschaft für Entdeckungen außerhalb der gewohnten Bahnen von Kunst und Wissenschaft, ihre Neugier, immer weiter zu schürfen, immer Neues zu entdecken" gefiel, verwehrte er sich stets gegen die Annahme, er habe der Surrealistengruppe um André Breton angehört. "Man betrachtete meine Fotografien", sagte er in einem Interview, "als 'surrealistisch', weil sie ein geisterhaftes, irreales, in Nacht und Nebel getauchtes Paris zum Vorschein brachten. Der Surrealismus meiner Bilder war aber nichts anderes als das durch die Sichtweise fantastisch gewendete Wirkliche. Ich wollte nur die Realität zum Ausdruck bringen, denn nichts ist surrealer als sie."

An abstrakte Kunst gemahnende Naturstudien, Details der ornamentalen Metroeingänge in Paris, Büroklammern, die an Posaunen erinnern, Nadeln, Reißzwecken, Streichhölzer in Großaufnahme, ein aufgerollter Busfahrschein, Dinge, die zu "unwillkürlichen Skulpturen" werden, zeugen von Brassaïs Leidenschaft für das Alltägliche. So verwundert es nicht, dass ihn auch die selten beachteten, in einer Stadt aber allgegenwärtigen Graffiti über Jahrzehnte beschäftigten, ein Interesse, das ihn mit der Art brut eines Jean Dubuffet verbindet. "Diese rudimentären Zeichen sind nichts Geringeres als der Ursprung der Schrift", schrieb Brassaï, "die Tiere, Monstren, Dämonen, Helden, phallischen Gottheiten nichts Geringeres als die Elemente der Mythologie." Er fotografierte und studierte die in den Gips der Pariser Hauswände eingeritzten Zeichen, sammelte und konservierte sie, und schlug in einem ihnen gewidmeten Buch sogar eine Klassifikation dieser bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreichenden Ausdrucksform vor.

Der ungemein vielseitig interessierte Künstler beschränkte seine Arbeiten nicht auf das Medium der Fotografie. Brassaï gestaltete nach dem Zweiten Weltkrieg Bühnenbilder, drehte 1956 einen beim Festival in Cannes für seine Originalität prämierten Kurzfilm, verfasste zahlreiche literarische als auch kunstkritische Schriften und schuf Tapisserien, Graphiken und Skulpturen, die er ebenso wie seine Fotos weltweit in Gruppen- und Einzelausstellungen zeigte. Mit bedeutenden Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, starb Brassaï 1984 in Beaulieu-sur-Mer in Frankreich.

Das Pariser Musée national d'art moderne, Centre Georges-Pompidou, organisierte im Jahr 2000 eine große Brassaï-Retrospektive, die bis 21. September 2003 in der Wiener Albertina zu sehen ist. Die dazu von Alain Sayag und Annick Lionel-Marie, den französischen Kuratoren der Schau, herausgegebene Monografie konzentriert sich mit ihren rund 300 Abbildungen auf das fotografische Werk, trägt aber auch der eklektischen Begabung Brassaïs Rechnung. Der Textteil des beeindruckenden Bandes beschränkt sich neben einer ausführlichen Bibliografie nicht auf - erfreulicherweise ohne großes Wortgeklingel auskommende - Artikel zu Leben, Werk und Persönlichkeit des Künstlers, sondern lässt auch den talentierten Autor Brassaï selbst zu Wort kommen, der eloquent faszinierende Einblicke in sein Denken und seine Arbeitsweise bietet.

Henry Miller, mit dem sich Brassaï nächtelang durch die Straßen und Cafés der französischen Hauptstadt treiben ließ, brachte in seinem Essay "Das Auge von Paris" das Genie seines Freundes auf den Punkt: "Brassaï besitzt jene seltene Gabe, die so viele Künstler gering achten: er sieht normal. Er verspürt keinerlei Bedürfnis zu verformen oder zu verzerren, keinerlei Bedürfnis zu lügen oder zu predigen. Die lebendige Ordnung der Welt würde er um keinen Jota verändern. Er sieht die Welt, so wie sie ist und wie wenige Menschen sie sehen, denn normal sehende Menschen sind etwas Seltenes. Alles, was seinen Blick auf sich zieht, gewinnt Wert und Sinn, einen Wert und Sinn, der, darf ich sagen, bis dato vernachlässigt und verkannt war. Selbst im Bruchstückhaften, Mangelhaften, Vulgären entdeckt er das Neue und die Vollkommenheit. Er erkundet mit derselben Geduld, mit demselben Interesse den Riss in einer Mauer wie das Panorama einer Stadt. Sehen wird für ihn zu einem Zweck an sich. Denn Brassaï ist ein Auge, ein lebendiges Auge."

(sb; 07/2003)


Alain Sayag, Annick Lionel-Marie: "Brassaï"
Christian Brandstätter, 2003. 320 Seiten, 300 Abbildungen.
ISBN 3-85498-259-3.
ca. EUR 69,-.
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