Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen"


Balzacs Abrechnung mit dem Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts

Lucien Chardon, einem jungen, vom Ehrgeiz besessenen Dichter aus der französischen Provinz, gelingt dank Protektion durch Madame de Bargeton der ersehnte Sprung in die Metropole Paris. Dort möchte er sich sowohl als Dichter als auch als Salonlöwe etablieren und Ruhm erwerben, wird jedoch schon bald von Madame de Bargeton fallengelassen. Damit beginnt die Desillusionierung der Vorstellungswelt des jungen Literaten Lucien. Auf sich allein gestellt, sucht und findet er jedoch schon bald Kontakt zu Dichterkreisen und zu Journalisten. Er gerät dabei in eine Welt des Intrigantentums hinein, in eine Welt absoluter Verlogenheit, deren verräterischen Machenschaften der Emporkömmling aus der Provinz sich auf Dauer nicht gewachsen zeigt. Und auch Lucien selbst macht sich des Verrats schuldig, des Verrats an seinen eigenen Idealen, an seinen Freunden und an seiner Familie, die er in den finanziellen Ruin stürzt. Als er schließlich im Selbstmord den einzigen Ausweg sieht, gerät Julien in die Klauen des "Ungeheuers" Vautrin, eines Verführers, dem es mittels seiner Überredungskünste gelingt, den Dichter von seiner Verzweiflungstat abzuhalten. Damit endet die Geschichte der "Verlorenen Illusionen", um in "Glanz und Elend der Kurtisanen" eine Fortsetzung zu finden.

Dies ist in groben Zügen die Rahmenhandlung des Romans "Verlorene Illusionen", der einen Auszug aus der "Menschlichen Komödie" darstellt, Balzacs gewaltigem Romanwerk. Die in etwa tausend Personen, die Balzacs "Menschliche Komödie" bevölkern, sind das lebende Inventar eines Museums französischer Zeitgeschichte, die sich über fast ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Und natürlich erfasst diese "Menschliche Komödie" noch weit mehr als nur das Gemälde eines Jahrhunderts französischer Sitten- und Kulturgeschichte, es ist ein Dokument der menschlichen Natur im Allgemeinen, in seiner Größe und Bedeutung vielleicht nur noch mit den Werken Shakespeares vergleichbar. Obwohl Balzac zurückgezogen lebte, eingesponnen in den Kokon seiner Arbeit, in sein Lebenswerk "Die menschliche Komödie", hat er die Psyche der Menschen ausgelotet wie kaum ein zweiter Dichter. Vielleicht, weil er den Blick auch nach innen gerichtet hat, um so dem kollektiven Bestandteil der menschlichen Seele auf die Spur zu kommen. Balzac charakterisierte die Menschen als Einzelwesen in ihrer ganzen Wirklichkeit, im Guten wie im Schlechten. Und die Personen seiner "Menschlichen Komödie" rekrutieren sich aus den verschiedensten Berufen und Gesellschaftsschichten, nur das Proletariat hat er dabei weitgehend ausgeklammert.

Balzacs Fähigkeit zur konzeptionellen Gestaltung seiner Romane übertraf sein Geschick als Erzähler nach Meinung der meisten Kritiker um ein Beträchtliches. Und das Urteil, Balzac schreibe schlecht, hat ja zum Teil bis heute Bestand. Aber jeder sollte wenigstens einmal in seinem Leben etwas von Balzac gelesen haben, um sich selbst darüber ein Urteil bilden zu können. Und nicht nur deswegen. Die Klarheit seines Stils, die Kraft seines Wortes, das in unmittelbarer Direktheit das Wesentliche ausdrückt, ohne der metaphorischen Girlanden einer gekünstelten Poesie zu bedürfen, bestechen immer wieder.

Die "Verlorenen Illusionen", Balzacs Roman über dubiose Machenschaften im Journalismus- und Literaturbetrieb, wurde vor mehr als 150 Jahren geschrieben und ist doch brandaktuell. Balzac hat sich selbst als Verleger versucht und auch als Buchdrucker, in beiden Fällen stand jedoch der Bankrott am Ende seiner Bemühungen. Die Erfahrungen aus diesen gescheiterten Unternehmungen flossen in "Verlorene Illusionen" mit ein. Balzac wusste also aus eigener Anschauung, worüber er schrieb. Bitterkeit war die Essenz, die den Boden tränkte, aus dem seine Lebenserfahrungen herauswuchsen. Doch dessen ungeachtet blieb er zeitlebens ein Optimist, der mit einer ungeheuren Willenskraft begabt war. Versehen mit dieser Kraft ertrug er auch das Joch der Arbeit, in das er sich selbst gespannt hatte, um die stets volle Schuldenkarre aus dem gröbsten Dreck zu ziehen. Diese Willenskraft war auch immer wieder ein Thema in Balzacs Romanen, so auch in "Verlorene Illusionen", wo dem willensstarken Dichter d'Arthez der Schwächling Lucien gegenübersteht.

Und sogar Visionäres finden wir in den "Verlorenen Illusionen". Balzac schien die kommende Macht und den Einfluss moderner Medien vorausgeahnt zu haben. Und die Dominanz wirtschaftlicher Aspekte gegenüber den Belangen der Literatur und der Kunst. Verleger und Buchhändler sind für Balzac "Leute, die den Mist, der in vierzehn Tagen sich zusammenkratzen lässt, einem Meisterwerk vorziehen, das sich nur langsam verkauft." An anderer Stelle konstatiert er: "Ein Buch ist Verlegern nichts als eine Kapitalanlage. Je besser ein Buch ist, desto weniger Aussicht auf Absatz hat es." Oder: "Kein Buchhändler will warten. Das Buch von heute muss morgen verkauft sein." Zum Journalismus erklärt Balzac unter anderem: "Der Einfluss und die Macht der Zeitung stecken noch in den Kinderschuhen, aber er wird rasch in die Höhe schießen. In zehn Jahren gibt es nichts mehr, was sich ihm entziehen kann ... Die Zeitung wird alles entblättern. Sie wird die Könige machen. Sie wird Monarchien stürzen. Die Zeitungen sind ein Übel."

Wie vernichtend müsste das Urteil eines Mannes wie Balzac angesichts unserer modernen Medienlandschaft erst ausfallen? Mein unmaßgebliches Urteil über die "Verlorenen Illusionen": Ein großartiges Buch!

(Werner Fletcher; 11/2007)


Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen"
Aus dem Französischen von Otto Flake.
Mit einem Essay von Hans-Jörg Neuschäfer.
Diogenes, 2007. 864 Seiten.
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