Alfred Andersch: "Der Vater eines Mörders"
Erzählung
(Hörbuchrezension)
Skandalöse 
Griechischstunde
Ein ungewöhnliches Stück Literatur hörbar gemacht 
von Hans Korte, der schon die Rolle des Schuldirektors Himmler in der Verfilmung 
1985 gespielt hatte. Andersch schildert mit dieser Erzählung das Ende seiner 
Schullaufbahn. Andersch - in der Erzählung Franz Kien - wird im Mai 1928 in 
griechischer Grammatik geprüft - von seinem Direktor, dem Vater von Heinrich 
Himmler (dem späteren Reichsführer SS). Die Frage steht im Raum, wie ein "Humanist" einen Nazi als Sohn haben konnte. Allerdings macht diese Erzählung 
beeindruckend deutlich, dass dieser Rex eben kein Humanist ist - sondern ein 
Sadist! Bereits im detaillierten Streit über Penibilität der griechischen 
Grammatik verdeutlicht sich die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt: 
Menschenverachtung und Spießertum sind die Himmlerschen Charakteristika bei 
Vater und Sohn.
Der Schüler Kien beharrt gegenüber dem Rex, dass er 
später einmal Schriftsteller werden möchte und seine Lieblingslektüre 
Karl May sei - 
was dem Direktor übel aufstößt. Der Text beweist zumindest, dass Bildung als 
auch Barbarismus eine Basis im autoritären Charakter zu haben scheinen. Die 
Pointe dieser Erzählung - die dummerweise auf Rezipienten mit 
Griechischkenntnissen angewiesen ist - mündet eigenartigerweise in einer 
Feindschaft zwischen Vater und Sohn Himmler. Das eigentlich Skandalöse ist der 
Vater-Himmler-Charakter - obwohl wir natürlich alle den Sohn-Himmler verdammen 
möchten.
Oberstudiendirektor Joseph Gerhard Himmler benimmt sich wie ein 
"Dreckskerl" - obwohl
Sokrates-Verehrer - indem er vor der Klasse verkündet, 
dass sich Kiens Vater weder das Schulgeld noch Nachhilfe leisten kann. Es stellt 
sich heraus, dass der Rex den Sohn "aus der Schule fegen" möchte, ohne Rücksicht 
auf den kranken Vater. Diese Griechischstunde ist eigentlich eine charakterliche 
Offenbarung.
Das Problem ist doch eigentlich: wie lässt sich denn 
überhaupt noch aufklärerisch argumentieren, wenn der formal humanistisch 
gebildete Vater-Himmler im Grunde die menschenverachtende Vorgehensweise an 
Schülern praktiziert, die der Sohn-Himmler als SS-Scherge knallhart im 
wirklichen Leben außerhalb der Schule demonstriert: eine Vernichtung derer, die 
unter dem eigenen (behaupteten) Niveau sind! Missbrauch von Bildung und Macht 
sind das Skandalöse.
Was lehrt uns also dieser Text von Andersch?! Es ist 
nicht die pro forma Bildung als solche, die uns zu Humanisten macht - sondern 
der Wille! Der Wille zum Willen! Das hat uns Andersch - ohne es explizit 
auszusprechen - schmerzhaft verdeutlicht. Der auf seine humanistische Bildung 
stolze Rektor Himmler verweist den kleinbürgerlichen faulen Versager 
Kien/Andersch der Schule - ihn, der den Berufswunsch "Schriftsteller" geäußert 
hat - und zum Glück auch in der Realität praktiziert hat.
Dieses letzte 
von Andersch vollendete Werk könnte bezüglich des Humanismus zumindest 
bedenklich stimmen - es ist aber anzunehmen, dass mit dieser Griechischstunde 
eine sehr spezielle Humanwerdung beabsichtigt war. Interessant ist eine 
Parallele zu 
Kafkas "Brief an den Vater": "Unverständlich war mir immer Deine 
vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen 
Worten und Urteilen mir zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung 
von Deiner Macht."
Im Grunde ernüchtert uns Andersch - der Humanismus ist 
kein Selbstläufer, wir müssen uns die Aufklärung immer wieder bewusst vornehmen 
- quasi auch als Charaktersache! Und dabei kann uns Hans Kortes Interpretation 
unterstützen.
(KS; 04/2006)
Alfred Andersch: "Der Vater eines 
  Mörders"
  Diogenes, 2006. 2 CDs, Laufzeit 142 Minuten.
  Ungekürzt 
  gelesen von Hans Korte.
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Alfred Andersch wurde am 4. Februar 
1914 in München geboren und starb am 21. Februar 1980 in Berzona 
(Tessin).
Ein Jahr nachdem Andersch, 18jährig, Organisationsleiter des 
Kommunistischen Jugendverbandes von Südbayern geworden war, wurde er in das KZ 
Dachau gebracht. Andersch löste sich von der KPD. 1944 desertierte der gelernte 
Buchhändler aus der Wehrmacht und geriet in Kriegsgefangenschaft. Er wurde 
Redakteur der Lagerzeitung "Der Ruf", die er ab 1946 mit 
Hans Werner 
Richter zusammen in München weiterführte. Dem "Ruf" wurde wegen Kritik an 
den Besatzungsmächten die Lizenz entzogen. Aus den wiederholten Treffen der 
"Ruf"-Autoren entstand die "Gruppe 47". 1958 wurde er freier Schriftsteller und 
zog mit seiner Frau, der Malerin Gisela Andersch, nach Berzona im 
Tessin.
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verschwunden ist. Efraims Reise wird zur Reise in die eigene 
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