Abu L-'Ala' Al-Ma'arri: "Paradies und Hölle"

Die Jenseitsreise aus dem "Sendschreiben über die Vergebung"


Ahmad ibn'Abdallāh, eher bekannt unter dem Ehrennamen Abū l-'Alā' ("Vater des Adels") bzw. seiner Herkunftsbezeichnung al-Ma’arri, ist in der abendländischen Literatur bisher ein weitgehend unbeschriebenes Blatt geblieben. Im moslemischen Orient verhält sich die Sache anders. Al-Ma’arri sei "nicht nur einer der bedeutendsten arabischen Dichter und Schriftsteller, sondern auch eine der merkwürdigsten Figuren der Weltliteratur", schreibt Gregor Schoeler, Übersetzer und Herausgeber von "Paradies und Hölle".

Von Ma'arrat nach Bagdad und zurück

Geboren wurde al-Ma’arri 973 nach Christus in der Provinzstadt Ma’arrat an-Nu’mān, etwa 70 Kilometer südlich des nordsyrischen Handelszentrums Aleppo. Seine Familie genoss hohes Ansehen, schon der Vater soll Philologe und Dichter gewesen sein. Im Alter von nur vier Jahren erblindete al-Ma’arri infolge einer Pockenerkrankung. Zeit seines Lebens empfand er diese körperliche Beeinträchtigung wortwörtlich als "Gefängnis". Was dem syrischen Schriftsteller zu sehen verwehrt blieb, das spielte sich vor seinem geistigen Auge umso lebhafter ab. Früh erlangte al-Ma’arri Berühmtheit ob seiner außergewöhnlichen Gedächtniskraft. Er studierte in Aleppo islamische Religion, Sprachwissenschaft sowie Literatur.

Nach dem Tod des Vaters, der zugleich sein erster Lehrmeister war, ging al-Ma’arri nach Bagdad. Eigenen Angaben zufolge gaben die gutbestückten Bibliotheken der "Stadt des Friedens" den Ausschlag, die Heimat zu verlassen. Der Dichter aus Syrien wurde von seinen Künstlerkollegen im Zweistromland freundlich aufgenommen. Al-Ma’arri fand sogar Zutritt zum schiitischen Marschall al-Murtadā, der selbst Literat war. Allerdings währte die Bekanntschaft nur kurz. Die beiden gerieten über den Stellenwert eines arabischen Dichters derart in Streit, dass al-Ma’arri an den Haaren aus dem Palast geschleift wurde. 1010 verließ er Bagdad und kehrte nach Ma’arrat zurück. Daheim angekommen, erfuhr der "Vater des Adels", dass seine Mutter kurz zuvor verstorben war.

Der "zweifach Gefangene"

Von nun an lebte al-Ma’arri das Leben eines zurückgezogenen Asketen. Bis zu seinem Tode im Jahr 1057 verließ er sein Haus nur mehr ein einziges Mal, nämlich 1026/7, als ihm eine heikle politische Mission anvertraut worden war. Der "zweifach Gefangene" (Blindheit, Haus) verbrachte den Rest seiner Tage im Kreis gelehriger Schüler, die er um sich gesammelt hatte. Al-Ma’arri folgte der damals gängigen Form des Unterrichts und ließ wissenschaftliche Schriften wie auch Gedichte laut vorlesen; danach kommentierte er das Gehörte. Mit Hilfe seiner Schreiber stand al-Ma’arri in Korrespondenz mit anderen Gelehrten seiner Zeit. Alkohol verabscheute er, das Fasten und Nachtwachen hielt der Asket Allahs hingegen hoch.

Seine Lehre ist geprägt von Pessimismus. Al-Ma’arri war überzeugt, dass die Welt etwas Unvollkommenes ist. Zeugung von Nachkommen betrachtete der syrische Gelehrte als "Sünde", da neues Leben wieder nur zu neuem Leid führt. Einzig der Tod kann den Menschen, ja die Menschheit als Ganzes, erlösen. Er soll verfügt haben, dass einst folgender Vers auf seinem Grab geschrieben steht: "Dieses Verbrechen hat mir mein Vater angetan; ich habe niemandem ein solches Verbrechen angetan." Selbstredend, dass al-Ma'arri keine Kinder in die Welt setzte.

Die Vernunft als Geschenk Gottes

Einen weiteren Pfeiler im Denken des Ahmad ibn'Abdallāh machte der Skeptizismus aus. Bei metaphysischen Erkenntnissen plagte ihn der Zweifel hinsichtlich ihrer Überprüfbarkeit; nur der feste Glaube an den Schöpfergott blieb davon unberührt. Die frommen Moslems abverlangte Pilgerfahrt nach Mekka kritisierte er heftig, da sie seiner Ansicht nach nahe am Aberglauben angesetzt war. "Die Bewohner der Erde zerfallen in zwei Gruppen, die einen haben Vernunft, aber keine Religion, und die anderen haben Religion, aber keine Vernunft." Ein Zitat, das aufgrund seines Inhalts weit eher von einem Voltaire als von einem arabischen Literaten des 11. Jahrhunderts stammen könnte. Tatsächlich war für al-Ma’arri die Vernunft "das höchste Prinzip alles rechten Tuns", wie Schoeler analysiert. Sie ist der Leuchtturm, den Gott den Menschen geschenkt hat. Er forderte die Religionen untereinander zu Toleranz auf, verurteilte Polygamie und Sklavenhandel wie auch die Quälerei von Tieren.

Ein Veganer im 11. Jahrhundert

Al-Ma’arri vertrat eine Ethik, in der das Mitleid mit aller leidenden Kreatur im Zentrum steht; explizit auch mit Tieren. Diese Gesinnung muss als geradezu revolutionär gewertet werden, zieht man etwa Vergleiche zum katholischen Vordenker Thomas von Aquin (1224/5-1274), der allem nicht-menschlichen Leben keinerlei Rechte zuwies. Gregor Schoeler: "Al-Ma'arri war Vegetarier der strengsten Observanz; von einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens an aß er nicht nur kein Fleisch und keinen Fisch, sondern lehnte auch den Genuss von Milch, Eiern und Honig ab". Im modernen Sprachgebrauch würde der syrische Dichterfürst als Veganer bezeichnet werden.

Poesie und Prosa

Al-Ma'arris schriftstellerisches Schaffen kann grob in Lyrik und Prosa unterteilt werden. In Sachen Poesie sind zwei Gedichtsammlungen erhalten geblieben. Die erste, mit dem Titel "Funken des Feuerbohrgerätes", bedient sich einer hochrhetorischen Sprache; hauptsächlich für Lob- und Trauergedichte. Sie spiegelt die künstlerische Phase bis Bagdad wider. Die zweite, namens "Die Vorschrift, die nicht vorgeschrieben ist", fasst al-Ma'arris Dichtkunst nach Bagdad zusammen. Vom Stil her handelt es sich um komplizierte Reimtechnik philosophischen Inhalts. Von den Prosaschriften ist das "Sendschreiben über die Vergebung" wohl am nennenswertesten.

"Sendschreiben über die Vergebung"

Dem Anlass und der äußeren Form nach ist das "Sendschreiben über die Vergebung" ein Antwortbrief an den Aleppiner Literaten Scheich Ali ibn Mansūr. Al-Ma’arri bezieht Stellung zu einer Reihe von Punkten, die der Scheich ihm geschrieben hatte. Ausführlich knüpft er eine Kette von Anekdoten über die Heuchelei. Natürlich nimmt Al-Ma’arri seinen Briefpartner von jeglicher Heuchelei aus, subtil betrachtet, hält er ihm einen Spiegel vor. Hinter der Laudatio auf ibn Mansūr ("Dein Schreiben - ein Meer, das mit Weisheiten erfüllt ist - hat mich erreicht.") verbergen sich lauernde Ironie und tiefer Sarkasmus. Versteckt wirft al-Ma'arri dem Scheich vor, "die Wurzel zugunsten der Zweige außer Acht zu lassen" und fordert Reue, damit ibn Mansūr ins Paradies Eingang finden kann; denn den Hoffärtigen droht die Hölle.

Den wohl interessantesten Teil im "Sendschreiben über die Vergebung" macht die Jenseitsvision "Paradies und Hölle" aus. Gregor Schoeler ist bislang der Einzige, der diese literarische Himmelsschau al-Ma'arris ins Deutsche übersetzt hat. Vom Inhalt her erinnert "Paradies und Hölle" stark an "Die Göttliche Komödie" Dantes (1265-1321). Während der florentinische Dichter sich selbst auf Pilgerschaft durch Hölle, Fegefeuer und Paradies schickt; lässt al-Ma’arri den Scheich Ali ibn Mansūr auf dem jenseitigen Pfad der Reue wandeln. Dabei trifft er allerlei ehrenwerte und weniger ehrenwerte historische Persönlichkeiten.

Für Schoeler ist es aber "auszuschließen, dass al-Ma'arris 'Sendschreiben' Dantes 'Göttlicher Komödie' direkt oder indirekt als Quelle gedient hat, denn das arabische Werk war im lateinischen Mittelalter unbekannt." Selbst im Orient war es nicht allzu verbreitet. "Dagegen ist es sehr wohl möglich", Gregor Schoeler weiter, "dass ein anderes arabisches Buch beide Dichter zu ihrer Jenseitsvision angeregt hat." Bei angesprochenem Werk handelt es sich um das "Kitāb al-Mi'rādsch" ("Buch von der Himmelsreise"); Autor unbekannt. Darin wird der Prophet Muhammad auf seinem menschengesichtigen Reittier Buraq vom Erzengel Gabriel durch die sieben Himmel (wozu auch das Paradies zählt) geführt.

Der jüdisch-sephardische Arzt Abraham al-Faquim hatte die "Himmelsreise" ins Altspanische übersetzt. 1264 übertrug Bonaventura de Siena es dann vom Altspanischen ins Lateinische und Französische (Titel: "Liber Scalae Machometi" bzw. "Livre de l'Eschiele Mahomet"; "Buch von Muhammads Leiter"). Es darf als sehr wahrscheinlich angenommen werden, dass der äußerst gebildete Dante Alighieri diese Transkription seines Landsmannes Bonaventura kannte.

Zurück zu al-Ma'rris "Paradies und Hölle". Einige Passagen daraus erinnern ans Schlaraffenland. Da gibt es einen Bach aus Milch und einen Strom von edlem Wein (im Jenseits ist Moslems der Genuss dieses Getränkes erlaubt). Geschlachtete Tiere erwachen nach dem Verzehr ihres Fleisches sofort zu neuem Leben; und großäugige, vollbusige Jungfrauen sorgen sich um das Wohl der männlichen Paradiesbewohner. Jeder Laut, jeder Ton von ihnen, bereitet den Hörern "unsägliche Wonne". "Die Paradiesjungfrau übertrifft die irdische Frau wie die aufbewahrte Perle den weggeworfenen Kieselstein", heißt es. Doch hinter dieser Idylle verbirgt sich beißende Ironie. Nicht immer sollte jeder Wunsch in Erfüllung gehen, auch nicht im Paradies, wie die folgende Parabel versinnbildlicht.

Ein Gesäß von paradiesischer Größe

Dem jenseitig wandernden Scheich missfällt es, dass ein ihm zugeteiltes Paradiesmädchen trotz ihrer Schönheit zu dünn ist. Allah erhört sein stilles Flehen und im Nu hat die Jungfrau ein Gesäß, das die Ausmaße der Dünen in der Wüste annimmt. Da ruft der Scheich erschrocken aus: "O du, der du (...) der Bittenden ihre Wünsche erfülltest, der du Dinge vollbrachtest, die unmöglich und furchtbar schienen, und der du die Unwissenden zur Einsicht brachtest: Ich bitte dich, beschränke das Gesäß dieser Paradiesjungfrau auf eine annehmbare Größe - denn deine Allmacht hat mit ihr die Grenze des Erhofften überschritten!" Darauf zeigte Gott Erbarmen, und die Größe ihres Gesäßes ging auf das gewünschte Maß zurück. Trotz seines asketischen Lebens scheint al-Ma’arri ein Mann mit viel Sinn für Humor gewesen sein.

Die Dichtung der Geister

Abseits vom Paradies der Menschen - in Höhlen und baumbewachsenen Tälern - liegt das Paradies der Geister, jener Wesen, die schon vor Stammvater Adam existierten. In der vergänglichen Welt besaßen sie einst die Fähigkeit der Verwandlung, nun ist ihnen diese Gabe genommen. Dafür sind sie Meister der Dichtkunst, wie einer der ihren verlautbart: "Die Menschen kennen fünfzehn Versmaße, selten überschreiten die Dichter diese Zahl. Wir dagegen haben Tausende Versmaße, von denen die Menschen nie gehört haben." Al-Ma'arris Beschreibung dieser uralten, formwandelnden und musischen Wesen erinnert stark an westeuropäische Legenden von Elfen. Wahrscheinlich wollte der zu Toleranz mahnende syrische Dichter zum Ausdruck bringen, dass jede Kultur ihre Stärken und Schwächen - und damit Einzigartigkeit aufweist.

Die Geschichte des Wolfes

Im Jenseits begegnet Scheich Ali ibn Mansūr einem Wolf, der Gazellen jagt. Sooft er seine Beute verzehrt hat, erhält diese durch Gottes Allmacht ihre frühere Gestalt zurück. Somit ist Jäger wie Gejagten gedient. Für den Wolf bedeutet dieser Zustand einen Segen Muhammads, denn im vergänglichen Leben hatte er oft das Nachsehen, wurde mit Hunden gehetzt oder mit Pfeilen beschossen. Im Jenseits erhält er seine Belohnung. Dem Scheich stellt sich der Wolf als jenes Tier vor, das dem Dichter al-Aslami (7. Jh.) begegnete. Dazu gibt es folgende Geschichte: Als al-Aslami eines Tages Schafe hütete, stürzte sich der Wolf auf ein Muttertier. Da schrie ihn der Dichter an, worauf der Wolf abließ und sich lauschend vor ihn hinhockte. Al-Aslami hieß fortan "Der den Wolf ansprach". Beim Rezensenten weckt die Fabel Erinnerungen an den Hl. Franziskus, der in der Nähe der Stadt Gubbio einem marodierenden Wolf freundlich ins Gewissen redete. Der Überlieferung nach hörte "Bruder Wolf" danach auf, Jagd auf die Herdentiere der Bauern zu machen.

Lange noch geht die Reise durch "Paradies und Hölle" weiter. Und wenn der Leser sich an den blumigen Stil al-Ma’arris erst mal gewöhnt hat, wandert er gerne als Wegbegleiter Seite für Seite mit; die Augen offen für neue Anekdoten voller Ironie und Weisheit.

Das letzte Wort soll Gregor Schoeler haben: "Wenn es mir gelingt, dem literarisch interessierten Publikum einen einzigartigen arabischen Dichter, Schriftsteller und Menschen nahe zu bringen und das Interesse der Leser auf sein Meisterwerk zu lenken, (...), sehe ich die Aufgabe, die ich mir mit meiner Arbeit an diesem Buch gestellt habe, als erfüllt an."

(lostlobo; 07/2004)


Abu L-'Ala' Al-Ma'arri: "Paradies und Hölle"
Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Gregor Schoeler.
C.H. Beck, 2002. Neue Orientalische Bibliothek. 223 Seiten.
ISBN 3-406-48446-8.
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