Isabel Allende: "Mein erfundenes Land"


Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben mit großer Anteilnahme und Begeisterung vor vielen Jahren "Das Geisterhaus" gelesen, mit dem Isabel Allende mit einem Schlag weltberühmt wurde. Die Geschichte der Familie Trueba "gleicht in alarmierender Weise der Familie meiner Mutter: Solche Figuren hätte ich nicht erfinden können. Was ja auch nicht nötig war, denn wer eine Familie wie die meine hat, der braucht keine Fantasie."

Das Leben und die Geschichte Isabel Allendes bewegen sich zwischen zwei Daten, von denen das erste nie richtig ins Weltbewusstsein gelangte, dennoch ihr Leben von Stunde an veränderte: Am 11. September 1973 putschte Augusto Pinochet die demokratisch gewählte sozialistische Regierung von Salvador Allende unter tatkräftiger Hilfe der CIA und des damaligen us-amerikanischen Außenministers Henry Kissinger aus dem Amt und legte für lange Jahre Dunkelheit über ihr geliebtes Chile.
Am 11. September 2001 zerstörten Terroristen die Zwillingstürme des "World Trade Centers" in New York und gaben nicht nur den USA, sondern auch Teilen der westlichen Welt das Gefühl, im Innersten getroffen worden zu sein.
"In diesem Moment hat sich vieles verändert. In einer Krise kann man nicht neutral bleiben. Diese Tragödie hat mich mit meinem Identitätsgefühl konfrontiert, und ich spüre, dass ich heute Teil der bunten Bevölkerung Nordamerikas bin, so wie ich früher Chilenin war."

Doch ihr "erfundenes Land" lässt sie nicht los. Die Frage eines jungen Mannes aus dem Publikum während einer Tagung von Reiseschriftstellern, die Isabel Allende eröffnete, welche Rolle das Heimweh in ihren Romanen spiele, inspiriert sie, genau darüber nachzudenken. Am Ende dieses wunderbaren und für Allende-Fans sehr aufschlussreichen Buches spricht sie ihre Leser direkt an:
"Ich hoffe, dieser lange Diskurs beantwortet die Frage jenes Unbekannten über mein Heimweh. Glauben Sie nicht alles, was ich sage, ich neige zum Übertreiben und kann - ich habe Sie gleich gewarnt - nicht objektiv sein, wenn es um Chile geht; na, sagen wir besser, ich kann fast nie objektiv sein. Jedenfalls ist das Wichtigste meiner Reise durch diese Welt nicht in meiner Biografie oder meinen Büchern nachzulesen, es vollzog sich fast unmerklich in den verborgenen Kammern des Herzens. Ich bin Schriftstellerin, weil ich mit einem guten Ohr für Geschichten zur Welt kam und mit einer exzentrischen Familie und dem Los einer umherschweifenden Pilgerin gesegnet bin. Das Schreiben hat mir Gestalt gegeben: Wort für Wort habe ich die Person erschaffen, die ich bin, und das erfundene Land, in dem ich lebe."

Dazwischen beschreibt Isabel Allende auf 200 Seiten die bewegte Geschichte ihrer Familie, die, wie im "Geisterhaus" angedeutet, immer auf das Engste mit der Geschichte und dem Geschick Chiles verbunden war. Sie öffnet Einblicke in geschichtliche Zusammenhänge, beschreibt mit beeindruckenden Worten die Schönheit der gegensätzlichen Landschaften und Klimazonen Chiles, erwähnt die wesentlichen Stationen ihres Lebens, ohne ins Private zu gehen. Es gibt keine Details aus ihren beiden Ehen, kein Gerede über andere Menschen, es gibt Fakten, aber die sind mit Leidenschaft erzählt und dokumentiert.
Und es gibt eine Fülle von lustigen und manchmal skurrilen Familienanekdoten, von denen man einige aus ihren Romanen kennt.

"Mein erfundenes Land" ist ein Buch über eine leidenschaftliche Liebe zu einem Land, in dem man dennoch nicht mehr leben kann und will:
"Ich habe ein romantisches Bild von Chile, das zu Beginn der siebziger Jahre auf Eis gelegt wurde. Über Jahre glaubte ich, mit der Rückkehr zur Demokratie werde alles wie früher sein, aber selbst dieses konservierte Bild war eine Illusion. Vielleicht hat es diesen Ort, nach dem ich mich zurücksehne, nie gegeben. Bei meinen Besuchen muss ich das wirkliche Chile mit dem sentimentalen Bild abgleichen, das mich fünfundzwanzig Jahre hindurch begleitet hat. Weil ich schon so lange im Ausland lebe, neige ich dazu, die Tugenden der Chilenen zu überzeichnen und ihre unangenehmen Züge zu vergessen."
In einem schmerzhaften Prozess nimmt Isabel Allende die Realität in ganzer Schärfe wahr, aber sie übersieht nicht die zarten Pflanzen der Hoffnung, die wieder sprießen in einem Land, das trotz aller "Modernisierung" vielleicht doch seinen wesentlichen Charakter noch nicht verloren hat.

Allendes Übersetzerin Svenja Becker weist in einem Nachwort auf einige wesentliche und grundlegende Veränderungen hin, die in Chile nach dem Erscheinen des Buches anno 2003 wirksam wurden und nicht nur Isabel Allende sicher zu großen Hoffnungen Anlass geben, aber auch Grund für eine tiefe Skepsis, wie lange diese Fortschritte wohl anhalten werden.

Wird, so fragt sich der Rezensent, das 2004 eingeführte Scheidungsgesetz (Chile als letztes westliches Land!) wirklich am "machismo" etwas ändern, der die ganze chilenische Gesellschaft wie ein Netz durchzieht? Wird sich Michelle Bachelet, seit 2006 die erste Frau im Amt des Präsidenten, nicht auf ähnliche Weise zwischen den (Männer-)Fronten Chiles zerreiben (lassen) müssen, wie ihr letzter sozialistischer Vorgänger, Salvador Allende?

Mit diesen Gedanken lege ich ein Buch zur Seite, nach dessen Lektüre man diesem geschundenen Land und denen, die es lieben, nur das Beste wünschen kann, auch wenn man nie dort gewesen ist.

(Winfried Stanzick)


Isabel Allende: "Mein erfundenes Land"
(Originaltitel "Mi país inventado")
Aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp. 201 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Amandas Suche"

Amanda ist lebensklug und ausgesprochen eigensinnig. Sie wächst in San Francisco auf, der Stadt der Freigeister. Ihre Mutter Indiana führt eine Praxis für Reiki und Aromatherapie und steht im Mittelpunkt der örtlichen Esoterikszene. Der Vater ist Chef des Polizeidezernats und ermittelt in einer grausamen Mordserie. Auf eigene Faust beginnt Amanda Nachforschungen dazu anzustellen, unterstützt von ihrem geliebten Großvater und einigen Internetfreunden aus aller Welt. Doch als Indiana spurlos verschwindet, wird aus dem Zeitvertreib plötzlich bitterer Ernst. Und Amanda muss über sich hinauswachsen, um die eigene Mutter zu retten.
"Amandas Suche" erzählt den Weg einer furchtlosen jungen Frau, die mit allen Mitteln verteidigt, was sie liebt - ein fesselnder Roman über das kostbare Band zwischen Müttern und Töchtern und die lebensrettende Kraft der Familie. (Suhrkamp) zur Rezension ...
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