Alejandro Zambra: "Fast ein Vater"


Vater und/oder Poet? Der Buchtitel lenkt den Blick.

Der chilenische Poet Gonzalo ist laut Buchtitel fast ein Vater und hadert mit dem Ausdruck "padrastro", dem spanischen Wort für Stiefvater. Dem Wörterbuch der "Real Academia Española" entnimmt der chilenische Lyriker die weiteren Bedeutungen: "Rabenvater", "losgelöster, aber noch festsitzender Teil der Haut um den Fingernagel, der stören oder schmerzen kann". Alle Substantive, die auf "-astro" enden, werden pejorative gebraucht. "Musicastro, politicastro, poetastro" - Mein "padrastro" ist ein "poetastro". Er stellt sich diesen Satz aus dem Mund des Stiefsohns vor. "Poeta" oder "poetastro", "padre" oder "padastro" ...

In Jugendjahren - dem Inhalt des ersten Romanteils - war Clara seine große Liebe, die sich jedoch nach ersten poetischen Ergüssen und intimen Erlebnissen rasch verflüchtigte. Erst nach neun Jahren begegnet ihr Gonzalo zufällig wieder. Wenige Wochen später ziehen sie gemeinsam in Claras leerstehendes Elternhaus. Der stille, einzelgängerische Vicente, Claras Sohn, wird zum geliebten und umhegten Stiefsohn. Da Clara neben ihrem Beruf studiert, ist Gonzalo Hausmann, Vicentes Nachhilfelehrer, älterer Bruder, nachsichtiger Onkel und Hausclown. Ein Hemd zu bügeln sei schwieriger, als eine Sestine zu schreiben, konstatiert der Poet im zweiten Teil, der Lebensbeschreibung der Stieffamilie.

Sollte der Dreißigjährige nicht besser in einer fein eingerichteten Junggesellenwohnung leben und sich nach Belieben in der Hauptstadt Santiago fesche Frauen aufreißen und ins eigens dafür angeschaffte übergroße Bett abschleppen?

Während der spanische Titel des Romans ("Poeta chileno") die Rolle des Dichters betont, verlagert sich der Blick in der deutschen Übersetzung auf die Vaterrolle. Alejandro Zambra beschreibt detailliert das Leben der Stückwerkfamilie um 2003, in den ersten Jahren nach der Pinochet-Diktatur (1973-98). Gonzalos und Claras Alter lässt sich anhand der präzisen Jahresangaben und zahlreicher Bezüge zur chilenischen und internationalen Populärkultur erschließen. Sie könnten Altersgenossen des chilenischen Romanautors und Lyrikers sein. Minutiös schildert er Banalitäten des Alltags der jungen (Fast-) Familie: groteske Szenen bei Familienfeiern, leidenschaftlichen Sex, komplexe Beziehungskrisen und ungehemmten Streit.

In der Schilderung von banalen Details steckt Witz, zum Beispiel wenn die einzige Tierzahnärztin Chiles der Katze Vicentes alle Zähne reißen will, damit sie nicht an Zahnausfall stirbt. Clara und Gonzalo wagen dem Knaben nicht zu sagen, dass der Preis einer halben Million Pesos für die Operation unangemessen hoch und für die junge Familie jenseits der Grenzen des Bezahlbaren liegt. Durch den rigorosen Verkauf all seines Spielzeugs kann Vicente gerade einmal ein Zehntel der Kosten selbst lukrieren.

Die heiter wirkende Absurdität des Romans entsteht unter Anderem in den scheinbar unfiltrierten Aufzählungen von Dingen, Personen und Erlebnissen - beispielsweise bei Vicentes Spielzeug und in Fortsetzung im dritten Teil bei der oftmals grotesk wirkenden Darstellung von Chiles Poeten.

Mittlerweile lebt Gonzalo von Clara getrennt in New York. Der Kontakt zu Vicente ist fast abgebrochen. Der Achtzehnjährige - auch er sieht sich als Poet - unterstützt eine junge US-amerikanische Journalistin bei ihrer Reportage über Chiles Poeten. Auf ihrer ersten Auslandsreise entdeckt sie die reichhaltige Verschiedenheit der Welt und der Poesie und mit Vicentes Hilfe auch sich selbst.

Zambras Erzählung konstruiert sich aus einer Erinnerung, die versucht, sich einen eigenen Raum zu schaffen; das Herantasten an die Gegenwart ist eine Erinnerung an eine von Gewalt geprägte Vergangenheit, welche die Zukunft domestizieren möchte. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen in einem Alltag von Banalitäten, in der Nennung von zeitgenössischen Musiktiteln, lebenden und verstorbenen Poeten und einer Hauptfigur, die dem Autor gleicht oder ähneln könnte.

"Poeta" oder "poetastro", "padre" oder "padastro": Die wechselvolle, von heiterem Ton getragene Beziehungsgeschichte nimmt die Leser mit auf eine erstaunlich kurzweilige Reise in die Welt der chilenischen Lyrik.

(Wolfgang Moser; 08/2021)


Alejandro Zambra: "Fast ein Vater"
(Originaltitel "Poeta chileno")
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Suhrkamp, 2021. 459 Seiten.
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Alejandro Zambra, geboren 1975 in Santiago de Chile, gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren seiner Generation. Der promovierte Hispanist leitet den Studiengang Editionswissenschaft an der Universität Diego Portales in Santiago und arbeitet als Kritiker für namhafte Tageszeitungen, darunter das chilenische "El Mercurio" und das spanische "El País".
Seine Romane, Erzählungen und Gedichte erscheinen in mehr als zwanzig Ländern und erhielten zahlreiche nationale und internationale Preise. Sein Romandebüt "Bonsai" verhalf Zambra zum Durchbruch. Unter der Regie von Christián Jiménez wurde es für die Leinwand adaptiert und 2011 in Cannes uraufgeführt.