Konrad Paul Liessmann: "Alle Lust will Ewigkeit"

Mitternächtliche Versuchungen


Ob "Also sprach Zarathustra" als das Hauptwerk des Filosofen Friedrich Nietzsche gelten darf, ist umstritten, außer Zweifel steht indes der besondere Rang des "Buches für Alle und Keinen" (so die untertitelnde Bezeichnung) in seinem Oeuvre: nicht die sonstige Aforistik, sondern eine in Form und Sendungsbewusstsein recht deutlich an den Evangelien orientierte Sammlung von Weisheitsreden und Predigten, die der zu keinem anderen Zweck unter die Menschen gegangene Zarathustra zu den verschiedensten Themen hält. Der Verfasser hat seinen "Zarathustra" wegen dessen eindringlicher Rhythmik und sprachlicher Geschmeidigkeit einmal als Musik bezeichnet; besonders im vierten und letzten Abschnitt kann man von einer romanhaften Handlung sprechen, außerdem durchbrechen immer wieder Passagen mit einzigartiger lyrischer Prosa sowie etliche Gedichte - zwar nicht im Stil, doch in der ins Geschehen eingebetteten Art des Joseph von Eichendorff, welchen Nietzsche als Lyriker sehr verehrte, ohne an dessen starker Religiosität Anstoß zu nehmen - Reden und Handlung.

Das wahrscheinlich bekannteste Gedicht davon, welches mit "Oh Mensch! Gib Acht!" beginnt und es, je nach Stellung im Text (im "Zarathustra" kommt es dreimal vor, einmal leicht abgewandelt und vom Protagonisten mit Ausführungen versehen) und je nach Interpretation des Lesers verschiedene Namen trägt (das trunkene Lied, Mitternachtslied, Zarathustras Rundgesang, Nachtwandler-Lied, das andere Tanzlied, das andere Lied von der Glocke), hat Viele beschäftigt und inspiriert, so etwa noch zu Lebzeiten Nietzsches Gustav Mahler, so auch in unseren Tagen Konrad Paul Liessmann, den es zu einer ausgiebigen wie tiefsinnigen Untersuchung angeregt hat. Tiefsinn ist hierbei unumgänglich, insofern in den gerade einmal 11 Zeilen des Gedichts, die zwischen den Schlägen einer Mitternachtsglocke gesprochen, geraunt werden, ganze acht Mal das Wort "tief" vorkommt, jeweils in, wie Liessmann befindet, anderen Bedeutungsnuancen und unterschiedliche Assoziationen hervorrufend, nacheinander auf die Mitternacht, den Traum, die Welt, das Denken des Tages, das Weh, die Lust, das Herzeleid und zum Schluss gleich doppelt (was bekanntlich besser hält) auf die Ewigkeit bezogen (jene Ewigkeit, welcher, versinnbildlicht als Frau, im Folgekapitel Zarathustra/Nietzsche eine glühende Liebeserklärung machen wird).

Liessmann geht es in "Alle Lust will Ewigkeit" derart an, dass er jeder einzelnen Gedichtzeile etwa 20 bis 30 Seiten widmet, ihre jeweiligen Schlüsselworte bespricht und deren Bedeutungsbogen ermisst, sie mit anderen Stellen im "Zarathustra", in Nietzsches Werk, in der filosofischen wie auch der literarischen Tradition vergleicht und bewertet.
Die Literaturgeschichte betreffend macht der emeritierte Filosofieprofessor dabei eine glänzende Figur, erweist sich darin als liebender Kenner (oder kenntnisreicher Liebhaber), der sich beispielsweise auch Spekulationen darüber, ob nicht vielleicht der von Nietzsche ungeliebte Eduard Mörike - des Filosofen Neigung zur umwertenden Parafrase mit parodistischen Zügen durchzieht schließlich dessen ganzes Werk - unsichtbar Eingang in das Mitternachtslied gefunden habe, hinzugeben imstande ist.
Mit reichem geisteswissenschaftlichen Wissen ausgestattet, hätte Liessmann gewiss auch ein Vielfaches über Hintergründe, geistige Verwandt-  und Gegnerschaften, Bezüge zur Antike (der Autor von "Also sprach Zarathustra" war ein aus gesundheitlichen Gründen frühpensionierter Professor für klassische Filologie) wie zu unserer 2021er Gegenwart referieren können.

Außerdem klebt Konrad Paul Liessmann natürlich nicht am Hauptthema, dem filosofischen Gehalt des Gedichtes, sondern holt weit aus und erläutert recht ausführlich Zusammenhängendes. Hier eine kleine, keinerlei Vollständigkeitsanspruch verfolgende Auswahl des zur Sprache Gelangenden:

In "Auftakt" spricht Liessmann über die Vertonungen von Richard Strauss in dessen synfonischer Dichtung "Also sprach Zarathustra" (mit deren Anfangstakten, falls man sie kennt und sie sich also in Erinnerung rufen kann - so geht eine neue, unbekannte Sonne auf - "Alle Lust will Ewigkeit" dramatisch anhebt) und Gustav Mahler, der das Lied für Altstimme gesetzt und so zum vierten Satz seiner dritten Synfonie gemacht hat, sowie über das Motiv der Peitsche, welches auch in der dem Gedicht vorangehenden Unterhaltung Zarathustras mit dem Leben (welches ja in den meisten europäischen Sprachen feminin ist und in genannter Szene ebenfalls als Frau allegorisiert wird) auftaucht.

"Eins!": die Spannbreite des von Nietzsche gern verwendeten Ausrufs "Oh" und ein Überblick über die verschiedenen im "Zarathustra" genannten Menschenarten: zunächst natürlich der in die Welt zu gelangende Übermensch (was Liessmann unter anderem mit der Problematik moderner Selbstoptimierung in Verbindung bringt), als dessen Johannes Zarathustra gleichsam auftritt, der kleine Mensch, der hässlichste Mensch, die letzten Menschen (Gegenwartsbezüge könnten hier kaum deutlicher werden, reichlich Anreiz hat offenbar schon seinerzeit das junge Bismarck-Deutschland geboten), die höheren Menschen, die Zarathustra im letzten Abschnitt zu Tische lädt und denen er bei dieser Gelegenheit den ominösen Elfzeiler beibringt.

"Zwei!": ein Lob der feinen, zarteste Schwingungen wahrnehmenden Ohren (womit Nietzsche gesegnet zu sein glaubte), eine ausführliche Beschäftigung mit Nacht- und Mitternachtmetaforik in der deutschen Literatur nebst einigen Beispielen (vor allem, soweit dem Schöpfer des Mitternachtsliedes bekannt gewesen), gegen eine allzu simple, nur der Tageshelle verpflichtete Aufklärung.

"Drei!": vom Schlaf als der anderen Seinsweise des Menschen, in welcher er sich gewissermaßen nicht in menschlichem Zustand befindet und von welcher er nur im Nachhinein weiß, eine Leerstelle, in der wir doch ein knappes Drittel unseres Lebens verbringen, dennoch von "Unaussagbarkeit" gekennzeichnet - ein Begriff von Günther Anders, auf dessen Reflexionen  zu dem Thema mehrmals hingewiesen wird.

"Vier!": über die Mehrdeutigkeit des Titels eines berühmten Goya-Gemäldes je nach Übersetzung des spanischen Wortes "sueño", sei es, dass die Ungeheuer im Sinn der Aufklärung durch eine schlafende, ihrer Wach- und Schutzfunktion nicht nachkommende Vernunft hervorgerufen werden, sei es, dass dies durch eine von Allesdurchdringung und Allmacht träumende Vernunft selbst geschieht (anstatt - wie es ihr wohl anstünde - Unzulänglichkeitsbewusstsein und Selbstkritik zu schärfen; die Arme ist halt, könnte man bösartigerweise anmerken, heutzutage wie vieles andere ziemlich politisiert), der Traum nicht nur als Wohnort und Werkstätte des Unbewussten in einem Vorgriff auf die Psychoanalyse, sondern bei Nietzsche zuallererst als großer Künstler, als apollinisches Individuationsprinzip, wo das Ich in höchster Intensität die Welt der Illusion nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu formen vermag.

 "Fünf!": der Begriff der Welt und der Weltanschauung in der Filosofiegeschichte, der Mensch als jenes Wesen, das die Welt erst zu bebauen und zu gestalten hat, die Welt als Kunstwerk betrachtet, die scheinbar gegensätzlichen Begriffe tief/oberflächlich bei Nietzsche und überhaupt, Tiefe nicht nur im Sinn der späteren Psychoanalyse (Freud hat von Nietzsche wertvolle Anregungen empfangen) als viel Verdrängtes beziehungsweise schmerzliche Vergangenheit zulassen könnend, Nietzsches Theorie, dass man im Traum die Erfahrungen früherer Menschen wiederhole, Warnung vor einer Tiefe ohne Oberfläche, welche leicht zur Ideologie verkomme.
Und ein hoffnungsvoller Satz in robespierreförderlichen Zeiten: "Es wäre eine andere Dialektik der Aufklärung, die gerade in ihrer dunklen, nächtlichen, unkontrollierbaren Seite jene Sehnsucht nach Freiheit verankert sieht, die sie am Tage wohl programmatisch verkündet, dann aber als Form einer neuen Unterwerfung exekutiert." (S. 141/142)

"Sechs!": die Zwei-Welten-Theorie und ihre Ablehnung durch Nietzsche (und Liessmann und die ganze Filosofie seit mehr als zweihundert Jahren), die Tiefe der Oberfläche mit ihren Falten, Oberflächlichkeit aus tiefem Willen zur Illusion, wie Nietzsche sie in der Kultur der alten Griechen verwirklicht sah, der verlogene Wille zur Oberfläche bei heutigen Denkmalstürzern, Nietzsches spielerische Denker-Typologie (oberflächliche Denker, tiefe Denker, gründliche Denker sowie "solche, welche den Kopf in den Morast stecken", wie es im fünften Buch der "Morgenröte" heißt), eine Masken benötigende Tiefe (verbunden mit Selbstkritik Liessmanns, da mit jeder Sekundärliteratur die Maske wachse), Kritik auch (bzw. einmal mehr) am puristischen Ungeist unserer Epoche, an einer Psychologie, die in der Tiefe nur das Ausmaß der Verdrängung zu erkennen fähig ist, und an einer oberflächlichen Wissenschaftsgläubigkeit. "Dass uns Wissen immer befreit, ist eine szientistische Naivität." (S. 158)

"Sieben!": der Schmerz, in dem auch die Leiden der Vorfahren weiterleben, die Problematik des Mitleids, Erinnerungskulturen als wesentlich Leidenserinnerungen, der auffällige Mangel an Moral in großer Kunst. "Die Verbannung von Worten, Gesten, Charakteren und Handlungen, die nicht den aktuellen Moralvorstellungen entsprechen, aus der Kunst, zeugt nicht nur von schwindender Urteilskraft, sondern auch von abnehmender Genussfähigkeit." (S. 186) Oder gegen heutige Glücksvorstellungen und "progressive" Theologie gerichtet: "Ein Gott mit Migrationshintergrund, der gendergerecht die Menschen bittet, doch mit der Erde achtsam umzugehen, stellt keine Qual mehr dar. Aber auch kein Glück." (S. 195)

"Acht!" Liessmann definiert: "Das Herzeleid jedoch bezeichnet einen stillen, inneren, verzehrenden Kummer, ein Bei-sich-Sein im Schmerz."  (S. 204) Er geht auf die Figur der Herzeloyde in Wolframs Epos und Wagners Oper ein, die Nietzsche zum Anlass für den endgültigen Bruch mit dem Komponisten genommen hat, sowie auf die enge Verbindung beziehungsweise Dialektik von Lust und Schmerz.

"Neun!" über Nietzsches These: Schmerz sucht Abhilfe zu schaffen, Lust besteht in reiner Unmittelbarkeit, weshalb der Schmerz Ursachenforschung betreibt, die Lust hingegen sich selbst genügt, Schmerz, so Liessmann, signalisiert, dass etwas nicht passt, deutet oft auf eine falsche Lebensführung in der Vergangenheit (auch auf historischer Ebene) hin, Kritik an einer Welt, in der Anspruch auf Wahrheit mit Berechenbarkeit verwechselt wird und Quantifizierungsprozesse überhand nehmen, durch Schmerz gerate man in Negation zu sich selbst, Widerstand dem Leiden gegenüber als Bekenntnis zum Leben (allgemeingültig und als Teil der Biografie Nietzsches), doppeldeutiges Weh (Drohung unerfüllten Lebens, weswegen es den Schmerz nach Erben für alles, was an ihm nicht reif zu werden vermochte, verlangt).

"Zehn!" Ambivalenz der Lust, die auf ihre Befriedigung und Vernichtung zusteuert und doch andauern will (Hinauszögern der Bedürfnisbefriedigung auch als wirtschaftliches Prinzip), vor der Wirklichkeit nicht kapitulierendes, stets von neuem an ihr scheiterndes Wollen, Lust strebe nach Ewigkeit und treibe uns daher weiter, den Schmerz als Voraussetzung auszuhalten, Allakzeptanz nur durch Billigung alles Geschehenen möglich, Duft der Ewigkeit als Sehnsucht nach mehr sinnlich empfundener als gedachter Transzendenz, die Allverbundenheit der Dinge und Ablehnung des Liebestod-Konzepts in Richard Wagners "Tristan und Isolde".

"Elf!" Nietzsches Erfahrung mit einer rührend-kläglichen Mitternachtsglocke während eines Genua-Aufenthalts, mögliche Deutung der Ewigen Wiederholung/Wiederkehr als nahezu kantianisch anmutender Imperativ, jedenfalls als Hilfsmittel einer radikalen bejahenden Lebensfilosofie, Rituale  als Wiederholung besonderer Augenblicke ewiger Gegenwärtigkeit, das Vermögen der Lust, negative Empfindungen wie Angst, Schmerz und Ekel wegzuwischen, Lust begehre nicht das Schöne, sondern wolle laut Liessmann das Begehrte verschönern, Begehren als der Wille der Lust, der imstande ist, sich alles zu unterwerfen, in der Idee der Ästhetisierung befinde sich im Kern auch etwas vom Willen zur Ewigkeit ("Nur in der Lust werden wir der Vielfalt gerecht - nicht in der Moral."; S. 284),  Ewigkeit bei alledem weniger als ununterbrochene Dauer denn als Zustand vor der Zeit, wie schon Augustinus meinte.

"Nachklang": über einige weitere künstlerische, auch populärkulturelle Bearbeitungen des Mitternachtslieds, Warnung vor den Datenkraken, welche alles mögliche im Sinne haben, doch gewiss nicht unsre Lust (und zuvor schon immer wieder, wie man womöglich bemerkt hat, vor anderen unseligen Entwicklungen unserer Epoche).

Eloquent, wortreich und emfatisch, wie man ihn vielleicht von seinen öffentlichen Auftritten kennt, in mitreißendem Schwung, allerdings mit nicht immer kenntlich gemachter Grenze zwischen Mitschwingen und eigener Meinung (und etwas wenig Bezugnahme auf den Buddhismus, welcher zumindest auf den ersten Blick geradezu die Antithese zum Mitternachtslied darstellt), erkundet und deutet Konrad Paul Liessmann das Gedicht in seinen verschiedensten Facetten. Darüberhinaus führt er bis zu einem gewissen Grad in die Gedankenwelt Friedrich Nietzsches ein und macht den Leser dabei auf viele weitere interessante Themenbereiche der deutschen Geistesgeschichte aufmerksam.

(fritz; 06/2021)


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