Mathijs Deen: "Der Schiffskoch"


Alltagstrott auf einem Lichtschiff, traumatische Kindheitserlebnisse, Wahnvorstellungen und ein Ziegenböcklein als Wirbelwind: Kein Seemannsgarn!

Antriebslos liegt das Lichtschiff "Texel" tagein tagaus als verlässliche Orientierungshilfe für andere Schiffe auf offener See verankert. Der recht eintönige Alltag der Besatzung hat, außer Wetterkapriolen mitsamt heftigen Auswirkungen auf den Dienstbetrieb und pünktlichen Mahlzeiten, kaum Überraschungen oder Höhepunkte zu bieten. Die diensthabenden Männer sind allesamt wortkarg, Einzelgänger und mehr oder weniger dienstbeflissen routiniert im Schichtbetrieb tätig. Die Enge an Bord prägt die Atmosphäre ebenfalls, und jeder sehnt bereits bei der Ankunft auf der "Texel" seine plangemäße Ablösung herbei.

Frischer Wind hält Einzug, nachdem der von allen geschätzte Schiffskoch Lammert beschlossen hat, ein Gericht mit der Bezeichnung "Gulai kambing" aus dem Kochbuch seiner indonesischen Mutter zuzubereiten und daher allen Vorschriften zum Trotz ein noch nicht entwöhntes Ziegenböcklein, das er von der Bäuerin Beitske hat, mit an Bord bringt.
Lammert leidet regelmäßig unter Malariaschüben, muss sich überdies mit quälenden Erinnerungen an Kindheitserlebnisse (zur Zeit der japanischen Besatzung) und nun auch noch mit dem eigenwilligen Ziegenböckchen, das man als Leser schnell ins Herz schließt, herumschlagen.

Mathijs Deen schildert die Vorgänge und Zustände auf dem Schiff, die Aufgaben der Männer an Bord, unterschiedliche Wetterlagen auf See und besonders behutsam Lammerts persönliche Situation, die sich nach und nach quasi aus Mosaiksteinen seiner Erinnerungen zu einem schrecklichen Gesamtbild fügt.
Die übrigen Figuren werden eher am Rand und in knappen Szenen vorgestellt.

Es kommt, wie es kommen muss: Das sich unaufhaltsam zusammenbrauende Unheil erreicht seinen Höhepunkt, als dichter Nebel aufzieht und demzufolge Dauerstress das Lichtschiff und seine Besatzung fest im Griff hält.
Während Lammert in schlimmen Fieberträumen gefangen ist, springt das von den Männern - je nach Prägungen und Vorlieben - entweder als zukünftiges Schmorfleisch, treuer Freund oder Teufel betrachtete Böcklein um sein Leben, und der vom Autor effektvoll inszenierte psychotische Schub des medikamentenabhängigen ungeliebten Lehrersohns Gerrit Snoek sorgt dafür, dass am folgenden Tag Polizisten an Bord kommen müssen ...

Mathijs Deen hat einen (leider allzu kurzen) tiefschürfenden, bezaubernden Text mit - zumindest für das Ziegenböcklein - glücklichem Ausgang vorgelegt, der mit typischem Schiffsvokabular, poetisch geschilderten Impressionen und stimmigen Figuren aufwartet.
Die "Texel" existiert übrigens tatsächlich, sie war das letzte bemannte niederländische Lichtschiff, ist seit vielen Jahren "außer Dienst" und seither im Museumshafen von Den Helder zu besichtigen. Im Zusammenhang mit einer Radiosendung hat Mathijs Deen vor einigen Jahren Gespräche mit ehemaligen Besatzungsmitgliedern des Lichtschiffs geführt, die ihn wohl zu "Der Schiffskoch" (warum auch immer dieser Titel für den deutschsprachigen Raum gewählt wurde!) inspiriert haben.
Andreas Eckes Übersetzung lässt das Lichtschiff auch auf Deutsch in zauberhaftem Glanz erstrahlen.

Und so liest sich der Anfang im Original:
"Het was nog niet eens zomer, de eerste week van juni, maar toch al een benauwd heiige dag op het lichtschip Texel. Alles dampte: de zee onder de stekende zon, het geschrobde dek buiten de geopende patrijspoorten, de hachee op de borden van de motordrijvers en de matrozen.
De kok, die even daarvoor naar gewoonte de mannen op volgorde van dienstjaren het eten had opgeschept, was op weg naar de kombuis in de deuropening blijven staan en had zich daar met de lege schaal nog in zijn handen omgedraaid.
Daar stond hij en hij keek naar hoe de mannen aten.
De jongste matroos keek op van zijn bord en stootte de motordrijver naast hem aan. Die legde zijn vork neer en algauw staarde iedereen terug naar de kok.
'Alles in orde, Lammert?' zei Henk Kaag, de oudste matroos. Maar de kok antwoordde niet."

(kre; 04/2021)


Mathijs Deen: "Der Schiffskoch"
(Originaltitel "Het Lichtschip")
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.
mare, 2021. 112 Seiten.
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Mathijs Deen, geboren 1962, ist Schriftsteller und Radioproduzent. Er veröffentlichte Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten, der für den renommierten "AKO-Literaturpreis" nominiert war. 2018 wurde ihm für die literarische Qualität seines Werks der "Halewijnpreis" verliehen.

Zwei weitere Bücher des Autors:

"Unter den Menschen"

Seit dem Unfalltod seiner Eltern wohnt Jan allein auf dem Hof am Rande der Nordsee, das Leben geht seinen Gang, aber die Einsamkeit nagt an ihm. Ein bisschen Gesellschaft wäre schön, eine Frau, Gespräche, Sex, vielleicht sogar eine eigene Familie? Jan gibt eine Anzeige auf und erhält Antwort von Wil. Wil jedoch, so stellt sich heraus, verfolgt einen ganz eigenen Plan; sie sucht keine Liebe, sondern Ruhe vom Stadtleben und von den Enttäuschungen der Vergangenheit. Ihre einzige Bedingung lautet: Von dem Haus, in dem sie künftig leben wird, muss sie das Meer sehen können.
Literarisch, atmosphärisch und mit einem feinen Gespür für das Skurrile beschreibt Mathijs Deen den Prozess einer ungewöhnlichen Paarwerdung. Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, versuchen zusammenzufinden. Kann das gut gehen?  (mare)
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"Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas"
Der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen schärft unseren Blick für die großen Straßen Europas, spielen sie doch die heimliche Hauptrolle in der Geschichte unseres Kontinents. Denn von dem Augenblick an, als der erste Mensch europäischen Boden betrat, sind wir unterwegs. So nähert sich Mathijs Deen dem wahren Geist Europas, indem er den Lebenswegen von Vertriebenen, Wegelagerern, Pilgern, Glücksjägern und Rennfahrern folgt, die sie entlang der Küsten und über die Flüsse und Straßen Europas geführt haben - von Island nach Rom, von Boekelo nach Smolensk. Dabei spannt er den erzählerischen Bogen von der Altsteinzeit bis in die heutige Zeit. Dem Leser begegnen antike Händler, isländische Eroberinnen und römische Ehefrauen, mittelalterliche Pilger, jüdische Flüchtlinge und napoleonische Soldaten. "Über alte Wege" nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Fahrt durch Europa und eine faszinierende Reise durch die Zeit. (DuMont)
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