Peter Stamm: "Wenn es dunkel wird"

Erzählungen


Übergänge und Verwandlungen, Auftauchen und Verschwinden: Fantastische Sachlichkeit

Die im vorliegenden Band versammelten elf Erzählungen des am 18. Jänner 1963 geborenen Schweizer Schriftstellers Peter Stamm erschaffen schnörkellos und stilsicher jeweils eine ganz eigene kleine Welt voller Überraschungen und Abwegigkeiten, indem sie bemerkenswert bedächtig und unaufgeregt ausgetretene Pfade der üblichen Wirklichkeitswahrnehmung verlassen. Wobei Peter Stamm glaubwürdig zwischen einer neutralen Erzählstimme und männlichen wie auch weiblichen Erzählperspektiven wechselt und mit (auch schauer-) märchenhaften Motiven dezent zu hantieren versteht.

" (...), und vielleicht war es der fehlende Widerstand der Wirklichkeit, der sie dazu verleitete, viel weiter zu gehen, als sie es bei einer tatsächlichen Begegnung getan hätten." (S. 149)

Seien es die jugenderotisch grundierten Erinnerungen eines mutmaßlichen Bankräubers mit Eichhörnchenmaske ("Nahtigal"), sei es der hindernisreiche Auftakt einer Beziehung zwischen einer nackt am allermeisten betörenden Grafikerin und dem umschwärmten Archäologen Felix ("Das schönste Kleid"), das buchstäbliche Verschwinden eines biederen Büroangestellten kurz vor seinem Ruhestand ("Supermond") - die Erzählungen veranschaulichen höchstpersönliche Brüche der Wirklichkeiten, und präsentieren zudem jeweils in knappen Skizzen die aussagekräftigen Vorgeschichten.
Eine junge lebensunentschlossene Frau wird aufgrund ihrer unbestimmten Sehnsüchte endlich zum geliebten Sammlerobjekt ("Sabrina, 2019"), ein pensionierter Arzt, der nun als Patient eine schwere Operation vor sich hat, folgt einer rätselhaften Frau auf dem Spitalsgelände und sieht sich währenddessen mit Erinnerungen an lang zurückliegende befremdliche Ereignisse konfrontiert ("Die Frau im grünen Mantel").
In "Cold Reading" gerät die Kreuzfahrtteilnehmerin Paula in Barcelona völlig unzufällig an den Wahrsager Kumar, der glücklicherweise nicht nur die üblichen Binsenweisheiten feilbietet, und auch der berufsbesessene Georg macht eine ebenso rätselhafte wie heilsame Bekanntschaft. Zunächst kommt ihm freilich bei einer Autobahnraststätte vorübergehend seine Familie abhanden, erst die klischeehaft strenge Lehrerin Fräulein Koller bringt ihn mit Aufgaben und Belehrungen zur Besinnung ("Der erste Schnee").
In der gänsehautromantischen Erzählung "Dietrichs Knie" betätigt sich der eifersüchtige arbeitslose ehemalige Lehrer und Werbefachmann Adrian als Regisseur der Affäre seiner Partnerin Sabine mit dem Berufskollegen Dietrich, indem er harmlose Botschaften verfälscht, speziellere Versionen verschickt und bald die Korrespondenzrolle des Konkurrenten völlig übernimmt; ein Werbestratege ganz in seinem Element - oder doch nicht? Mit der wahren Überraschung wartet nämlich Sabine auf ...
Eine Polizistin erinnert sich in der titelgebenden Erzählung "Wenn es dunkel wird" an ein traumatisches Kindheitsereignis in den Bergen und begegnet einer ihr auf verstörende Weise vertrauten Frau. Die junge Bianca berichtet in "Mein Blut für dich" einer Kollegin im Rahmen einer verlängerten Rauchpause von den Folgen einer Blutabnahme, ihren eigenartigen Erlebnissen mit dem pensionierten verschrobenen Buchhalter der Firma und von der Liebe. Der Spekulant Richard Gerster verliert innerhalb kurzer Zeit sein gesamtes Vermögen und nimmt spontan Daniel Defoes Abenteuerroman "Robinson Crusoe" aus der Hotelbibliothek als Ratgeber für seine allernächste Zukunft als nunmehr mittelloser Gast der Luxusunterkunft ("Schiffbruch").

Peter Stamm hat in seinen Erzählungen langsame Übergänge, Wendepunkte, Momente des Innehaltens, Besinnens und Erinnerns ebenso komprimiert wie präzise beschrieben und seine aus dem Alltag entsprungenen Szenerien mit überzeugenden Figuren ausgestattet.

(kre; 09/2020)


Peter Stamm: "Wenn es dunkel wird. Erzählungen"
S. Fischer, 2020. 191 Seiten.
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Zur Netzpräsenz des Autors: http://www.peterstamm.ch