Marieke Lucas Rijneveld: "Was man sät"


Die Strafe Gottes

Schon in den ersten Sätzen zeichnet die 1991 in der Provinz Nordbrabant geborene Marieke Lucas Rijneveld ein düster kaltes Bild. Die Ich-Erzählerin schildert, dass sie zehn Jahre alt war und ihre Jacke nicht mehr ausgezogen hat. Sie schildert, wie sie von ihrer Mutter mit Eutersalbe, die eigentlich nur für die Zitzen der Milchkühe gedacht war, gegen den Frost eingeschmiert wurde. Sie schildert, wie sie sich vor deren fettiger Konsistenz genauso ekelte wie vor dem abstoßenden Geruch, den sie nicht mehr los wird.
"Trotzdem drückte Mutter ihre dicken Finger in unsere Gesichter wie in einen Käse, den sie befühlte und beklopfte, um festzustellen, ob die Rinde allmählich reifte. Unsere bleichen Wangen glänzten im Schein der fliegendreckübersäten Glühbirne in der Küche." (S. 9)
Es ist ein düsteres, fast apokalyptisches Bild, das die Stimmung dieses Romans sogleich prägt. Und es darf bereits an dieser Stelle gesagt sein, diese Stimmung bleibt dem Roman konsequent erhalten. Mit aufbauender Wohlfühlliteratur hat "Was man sät" nichts gemein. Und das ist auch gut so.

Jas, die von allen Jacke genannt wird, weil sie ihre Jacke nicht mehr auszieht, wächst mit ihren Geschwistern auf einem Bauernhof in der niederländischen Provinz auf. Ihre Eltern sind Teil der strenggläubigen orthodox-calvinistischen Gemeinde im sogenannten niederländischen Bibelgürtel, der sich von den seeländischen Inseln mittig durchs Land nordwestlich hinauf nach Overijssel erstreckt. Von den Außenstehenden werden sie abfällig "Schwarzstrümpfe" genannt. Es scheint, als wäre die Moderne am Hof der Familie vorbeigeschrammt, die Eltern schwelgen in Versen aus dem Alten Testament. Alles hat hier mit Schuld zu tun, man ist für alles selbst verantwortlich. Die Worte der Schrift belegen das.

Als Jacke bemerkt, dass ihr Vater die Kaninchen mästet, beschleicht sie der Verdacht, dass diese für den Weihnachtsbraten herhalten sollen. Sie versucht, den Vater dazu zu überreden, andere Tiere in Erwägung zu ziehen.
"Die anderen Kinder aus meiner Klasse essen Ente, Fasan oder Pute, und die stopfen sie dann durch den Hintern mit Kartoffeln, Knoblauch, Porree, Zwiebeln und Rüben voll, bis sie fast platzen." (S. 21)
Doch es geling ihr nicht, und sie lässt sich dazu verleiten, einen Wunsch zu äußern, der ihrer aller Leben verändern wird.
"Ich dachte daran, dass ich noch für so vieles zu klein war, dass einem aber niemand sagte, wann man groß genug wurde, wie viele Zentimeter das am Türpfosten waren, und ich bat Gott, ob er, bitte, nicht mein Kaninchen, sondern meinen Bruder Matthies nehmen könnte: Amen." (S. 24)

Und Gott scheint sich ihren Wunsch zu Herzen genommen haben, denn ihr Bruder, der, während sie diesen Wunsch äußert, schlittschuhlaufen ist, bricht durchs Eis und stirbt im eisigen Wasser. Und so kommt zum Vorschein, was die ganze Zeit über unter der Oberfläche gelauert hat. Jedes Mitglied der Familie scheint sich auf die eine oder andere Weise die Schuld an Matthies' Tod zu geben, und so schlittert das ohnehin klaustrophobische Familienleben in einen noch düstereren Zustand, der teilweise schlichtweg unerträglich ist. Die Strafe Gottes, wofür sie sein soll, wird nie ganz klar, betrifft alle und nimmt den letzten Lichtstrahl vom Bauernhof.
"In den darauffolgenden Nächten ging ich jedes Mal heimlich nach unten, um nachzuschauen, ob mein Bruder wirklich tot war. Dann hatte ich mich bereits lange im Bett herumgewälzt oder die Kerze gemacht, indem ich auf meiner Matratze die Beine in die Luft streckte und die Hände in die Hüften stemmte. Im Morgenlicht sah der Tod selbstverständlich aus, doch sobald es dunkel wurde, kamen die Zweifel. Was, wenn wir nicht richtig geschaut hatten und er unter der Erde aufwachen würde?" (S. 38)

Jas erkennt, dass Tote viel mehr vermisst werden als Lebende, weil die Eltern nun in ihrer Trauer um den toten Sohn die anderen Kinder komplett vergessen. Der Vater widmet sich fast nur mehr seinen Kühen, die zu seinem einzigen Lebensinhalt werden. Die Mutter isst de facto nichts mehr, und beim Tisch steht ein Stuhl, auf dem niemand sitzen darf. Auf jenen Haken, auf den Matthies seine Jacke gehängt hatte, darf niemand etwas hängen. Die Geschwister widmen sich immer morbideren Spielen, die sich einerseits mit dem Tod beschäftigen, andererseits aufkeimende Sexualität betreffen. Der Tod scheint überall zu lauern, sie fragen sich, wer als Nächster dran glauben muss, ob es ein Autounfall oder ein Sturz in einen Futtersilo sein wird, ob jemand ermordet oder vom Krebs dahingerafft wird, all das beschäftigt die Kinder so sehr, dass diese grausame Welt, in die sie sich geflüchtet haben, immer unerträglicher wird.
"Als ich mich umschaue, sehe ich, dass sich seine Schlafanzughose zwischen den Beinen spannt. Ich denke an das vorige Mal, als er mit seinem Pimmel einen Trick vorführte, und frage mich, wie viele Finger er diesmal wohl dick ist, ob wir ihn auch reinstecken können, um den Durchgang noch größer zu machen. Aber ich sage nichts, nicht jetzt: Fragen zu stellen erzeugt Erwartungen, und ich weiß nicht, ob ich die erfüllen kann. Wenn die Lehrerin mir eine Frage stellt, scheinen meine Gedanken manchmal wie mit Tipp-Ex gelöscht. Und ich sollte Obbe nicht noch wütender machen. Angenommen, Vater und Mutter werden von seinem Gefluche wach? Plötzlich beginnt Obbe seinen Zeigefinger immer schneller vor und zurück zu bewegen, als wolle er das seltene Tier aus seiner Sammlung immer wieder anstupsen, damit es zum Leben erwacht. Träge beginne ich, meine Hüften auf und ab zu bewegen: ich will flüchten und gleichzeitig bleiben. Ich will sinken und mich weiter treiben lassen. Um mich herum taucht eine Schneelandschaft auf." (S. 231)

Nach Matthies' Tod passiert nicht mehr viel, wenn man "passieren" mit Handlung gleichsetzt. Es ist vielmehr Rijnevelds Beobachtungsgabe, die dem zwischen den Zeilen Lesenden immer wieder neue, drastische und schwer verdauliche Erkenntnisse beschert. Die Autorin beschreibt eine Welt, die man keinem Kind wünscht, die allerdings nicht so unglaublich wäre, dass man nicht erkennen würde, dass es eine Welt ist, in der viel zu viele Kinder aufwachsen.
Rijnevelds Sprache, nicht unwesentlich dank der kongenialen Übersetzung von Helga van Beuningen, ist archaisch und düster, kindlich naiv aber dennoch übermäßig schlau. Man erkennt, wie aufgeweckt und hell der Geist der jungen Jas ist, die man einfach aus diesem Sumpf befreien möchte. Es ist auch die Unfähigkeit der Eltern, sich mit irgendetwas außer ihrer kleinen, engstirnigen Weltsicht auseinanderzusetzen, die es nicht schaffen, aus ihrer dümmlichen Sprachlosigkeit herauszufinden und ihren anderen Kindern jene Unterstützung zu gewähren, die sie brauchen, um gesund ins Erwachsenenalter zu wechseln.
Das alles erklärt Rijneveld nicht, sie lässt den Leser allein mit Jas' Gedanken, stößt ihn hinein in die Vorstellungswelt ihrer jungen Protagonistin, was letztendlich genau das ist, was diesen Roman so immens stark macht. Abstoßend, unerfreulich teilweise und dennoch unglaublich faszinierend.

(Roland Freisitzer; 11/2019)


Marieke Lucas Rijneveld: "Was man sät"
(Originaltitel "De avond is ongemak")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2019. 317 Seiten.
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Marieke Lucas Rijneveld veröffentlichte im Jahr 2015 ihren preisgekrönten Lyrikband "Kalfsvlies". "Was man sät" ist ihr Debütroman und hat in den Niederlanden für Furore gesorgt. 2019 erschien ihr zweiter Lyrikband "Fantoommerrie". Rijneveld lebt in Utrecht und arbeitet nebenher auf einem Bauernhof.