Paul Ingendaay: "Königspark"


Die Beschützerin der Frauen im Königspark

Paul Ingendaay ist, neben seiner Tätigkeit als Feuilletonredakteur der "F.A.Z." und Übersetzer aus dem Englischen (u.A. Patricia Highsmith und William Faulkner), ein wohl viel zu wenig beachteter Schriftsteller, was höchstwahrscheinlich daran liegt, dass bei vielseitig tätigen Menschen ihr schöpferisches Betätigungsfeld oft als Nebensache betrachtet wird. Bekannter Übersetzer ist nebenberuflicher Autor beispielsweise. Im Fall von Paul Ingendaay ist das sehr schade, weil seine literarischen Werke viel mehr als nur Beiprodukte seines Schaffens darstellen.

Nun hat der seit vielen Jahren in Spanien lebende deutsche Autor einen Roman geschrieben, der als Zentrum Madrids Königspark hat. Eine riesige Grünfläche, die für alle Madrilenen der einzige grüne Fluchtort vor der sengenden Sommerhitze ist. In Wahrheit heißt der königliche Park "Casa de Campo". Nuria, die Hauptprotagonistin, nennt ihn allerdings "Königspark", weil der spanische König Philipp II. im sechzehnten Jahrhundert dort seine Wildjagd betrieben hat. Und diese Wildjagd setzt sie mit der Jagd der heutigen Männer auf käufliche Frauen gleich, die im "Casa de Campo" auf ihre Jäger warten. Der Park wird so zu einem Ort des Begehrens und der Gewalt. Einer Gewalt, die Nuria unter Kontrolle zu bringen versucht.

Zentrale Figur ist also Nuria, die "Mixed Martial Arts", die brutalste Mischung aller möglichen Kampfsportarten, beherrscht und sich selbst als "Unterstützung aus dem Dunkel" bezeichnet. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze fährt sie auf ihrem Rad durch den nächtlichen Park und beobachtet die Mädchen und ihre Freier, immer bereit, einzuschreiten, falls Grenzen überschritten werden. Sie beherrscht die Nacht, um nicht von der Nacht beherrscht zu werden. Sie kümmert sich darum, dass die Mädchen arbeiten, in erster Linie, um den Mädchen Probleme mit Rico Vargas zu ersparen, dem ungekrönten und zynischen Zuhälterkönig von Madrid. Durch eine List erkämpft sie sich die Arbeit in Ricos Stall. Warum sie das tut, ist zu Beginn unklar. Zusätzlich zur Herrschaft über den "Casa de Campo" betreibt Vargas auch den exklusiven Club "Caverna Azul", in dem Nurias Schwester Isa als Nobelprostituierte arbeitet.

Nuria stammt aus einem religiösen Elternhaus und ist auf der Suche nach ihrer Schwester, die sie in Madrid vermutet. Isa, die sie und die Familie vor Jahren nach nicht enden wollenden Differenzen zwischen ihr und ihrem Vater verlassen hat. Eine Wunde, die Nuria nie verkraftet hat. Allerdings hat Nuria keine Ahnung, dass ihre Schwester, ebenso wie sie, wenn auch in anderer Funktion, für Rico Vargas tätig ist.

Nun wäre das alles bereits mehr als ausreichend Material für einen Roman. Paul Ingendaay geht allerdings weiter und entwirft in abwechselnden Kapiteln weitere Handlungsstränge, die am Ende alle irgendwie doch ein Ganzes ergeben.

Ingendaay erzählt ebenso aus der Perspektive Rico Vargas', zeichnet dessen Weg aus einem Provinznest zum Rotlichtkönig von Madrid. Ein Weg, der keine Hindernisse kennt, die nicht überwindbar wären. Von seinen ersten Schritten als Gehilfe eines mächtigen Mannes über seine Abwendung von ihm und die Eigenständigkeit in Madrid. Immer in der Hoffnung, dem ehemaligen Mentor mit seinem Aufstieg imponieren zu können. Er betreibt Menschenhandel, indem er illegal eingereiste Frauen aus unterschiedlichen Ländern in einem Haus hält, von dem aus sie jeden Abend zur Arbeit und danach wieder zurückgebracht werden. Die Polizei fürchtet er nicht, weil er die notwendigen Kontakte im Griff hat.

Ebenso zeichnet der Autor Isas Weg. Von der braven Tochter, den ersten Enttäuschungen und ihrer ersten großen Liebe, die dazu führt, dass sie in die Prostitution einsteigt. Eindringlich schildert Paul Ingendaay, wie die Verletzungen, die ein Mensch einem anderen in der Liebe zufügen kann, zu schwerwiegenden Enttäuschungen führen. Isa ist eine Verlorene, allerdings emotional derart abgestumpft, dass sie ihre Wunden nicht mehr spürt.

Ein weiterer Handlungsstrang betrifft einen jungen deutschstämmigen Journalisten, der Arbeit bei einer Madrider Tageszeitung gefunden hat. Ingendaay zeichnet den Weg Mateos und seines Umfelds nach. Man erfährt viel über die Arbeit in der Redaktion, ebenso wie die Lebensläufe und Verwicklungen seiner Kolleginnen und Kollegen. Im Lauf seiner Tätigkeit kommt Mateo Wassmann Castellar dazu, einen Artikel über die Frauen und Freier des "Casa de Campo" zu schreiben, und wie erwartet, ist das dann auch die Schnittstelle, an der die verschiedenen Fäden beginnen, sich zu einem Ganzen zu fügen.

Durch Zufall erfährt Nuria von der Tätigkeit ihrer Schwester, und als sie mitbekommt, dass Isa für Rico Vargas arbeitet, beginnt sie Rachepläne zu schmieden. Ihr Ziel ist es nun, Rico zu vernichten und die Frauen im "Casa de Campo" zu retten. Sie trifft auch auf Mateo, der seit einiger Zeit Anrufe eines Mannes erhält, der auf der Suche nach seiner in Madrid verschollenen Tochter ist.

Paul Ingendaay jongliert virtuos mit den vielen Strängen des sehr unterhaltsamen, wenn auch aufgrund seiner Thematik bedrückenden Romans. Er geht in die Tiefe, leuchtet die Figuren ausgiebig aus, zeigt Ereignisse, die unterschiedliche Konsequenzen auslösen. Er fächert die Wege der den Roman bevölkernden Protagonistinnen und Protagonisten auf, zeigt die Verstrickungen und legt beim Schildern der Ereignisse im "Casa de Campo" eine Menschlichkeit an den Tag, die das unterdrückende und frauenverachtende Geschäft mit der käuflichen Liebe weit weg von voyeuristischer, sexuell konnotierter Prosa rücken. Selbst wenn man hier und da das Gefühl hat, dass der eine oder andere Handlungsstrang vielleicht überzogen und zu viel Gewicht im Kontext hat, ist Ingendaays Roman dennoch wirklich überzeugend, was mitunter auch daran liegt, wie wundervoll einfach und fesselnd, ohne je auch nur im Ansatz banal zu sein, der Autor erzählen kann.
Das tut gut, regt zum Nachdenken an, zeigt Missstände auf, und lässt den Leser die immens liebevoll gezeichneten Figuren lange nicht vergessen. So ist "Königspark" sicherlich einer der interessantesten deutschsprachigen Romane der letzten Zeit.

(Roland Freisitzer; 05/2019)


Paul Ingendaay: "Königspark"
Piper, 2019. 398 Seiten.
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Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte lange Jahre in Madrid. 1997 erhielt er den "Alfred-Kerr-Preis" für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt "Warum du mich verlassen hast" mit dem "aspekte-Literaturpreis" ausgezeichnet.