Varujan Vosganian: "Als die Welt ganz war"

Erzählungen


Der Erzählband "Als die Welt ganz war" von Varujan Vosganian, der von Ernest Wichner aus dem Rumänischen übersetzt wurde, umfasst vier Erzählungen. Diese stammen aus dem Band "Jocul celor o suta de frunze si alte povestiri", anno 2013 in der "Editura Polirom" erschienen. Die erste Erzählung, "Das Spiel der hundert Blätter", wurde bereits im Jahr 2016 bei Zsolnay aufgelegt. Die "Leipziger Buchmesse" hat heuer den Schwerpunkt Rumänien gewählt und ermöglicht es, Geschichten aus Rumänien genauer in Augenschein zu nehmen.

"Als die Welt ganz war" ist Grundtenor der Erzählungen, die ein pessimistisches Bild der Welt zeichnen, die Gegenwart nahe am Abgrund sehen. Der Titel überlässt es dem Leser, Schlüsse daraus zu ziehen. Eine weitere Gemeinsamkeit der Erzählungen dieses Bandes ist der surreale Erzählton, dessen Stimme aus der Vergangenheit zu kommen scheint und fast alle Menschen der Gegenwart zu Versehrten macht. Die Erzählungen des Post-Ceauşescu-Rumäniens sind verbunden mit der Zeit davor, die geprägt war von Angst und Unfreiheit, welche die Menschen noch nicht loslässt. Die Erzählungen sind Erklärungsversuche oder Versuche, die Ängste zu beschreiben.

In der ersten Erzählung treffen zwei Personen aufeinander, die sich bereits vor Jahren als Opponenten gegenüberstanden. Beide meinten für das Gute, für die Freiheit, zu kämpfen, und beide sind geschüttelt und traumatisiert daraus hervorgegangen. Es geht dem Sturz Ceauşescus eine unklare Vorgeschichte voraus, die entweder als Revolution, Staatsstreich oder als beides gedeutet wird. Diese Erzählung gibt keine Antwort auf eine Deutung, aber sie ermöglicht es, die Historiografie als Erzählungen von zwei Perspektiven zu betrachten: Eine Studentin, die an der Besetzung der Universität teilnahm, und ein Bergarbeiter aus dem Schiltal, der mit anderen Kumpeln nach Bukarest gebracht wurde, um die Hauptstadt von Legionären zu befreien und einen Staatsstreich zu verhindern, der laut Illiescu drohte.

Die zweite Erzählung hat als Fokus die Versehrten, die Bettler Bukarests. Die Stimme ist ein Mensch, der von Geburt an verstümmelt ist und "Coltuc" genannt wird, was soviel bedeutet wie "der Zipfel eines Polsters". Seine Kommilitonen sind ein Blinder und ein Lahmer, und sein Aussehen wird wie folgt beschrieben:
"(Coltuc) saß unter und bei ihnen, bestens auf den Brettern aufgepflanzt, die so eine Art Wägelchen mit Rädern bildeten. An der Stelle, wo die Beine hätten beginnen müssen, waren die Hosenbeine eingerollt und mit Haken fixiert, damit ihn das Holz nicht aufrieb. Aus den Schultern sprossen ihm ein paar krumme Finger, wie Vogelkrallen. Sie waren allein dazu gut, das jeweilige Ende der Schultern einzufassen, wie Drahtenden, die man hatte hängen lassen, nachdem der Sack gut verschnürt worden war. Da er weder in die Höhe noch in die Breite wachsen konnte, hatte sich sein Körper im Leib selbst verdichtet."
Aus dieser grotesk anmutenden Perspektive wird eine Welt beschrieben, die fantastisch wirkt, nur für Coltuc einen Sinn ergibt und für ihn ganz war. Aus dieser Perspektive heraus zerfließt er nicht in Selbstmitleid, sondern beobachtet. Diese Unvoreingenommenheit ist auch bedingt durch sein auf der körperlichen Versehrtheit beruhendes Unvermögen, zu handeln. So muss er mitansehen, wie seine Schwester, die die Obsorge für ihn übernimmt, von ihrem Partner vergewaltigt wird, und stirbt zuletzt, indem er von diesem vergiftet wird. Dies alles bleibt jedoch ohne Konsequenzen in einem System ohne Kontrolle.

Die dritte Erzählung widmet sich den Folgen eines Lageraufenthaltes für eine Familie. Der Großvater der Protagonistin Cosmina überlebt zwar diesen Aufenthalt, doch das Trauma, das er erleidet, zeichnet ihn für sein Leben. Cosmina wächst bei ihm auf, da ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen. Sie wird Chirurgin und hat ein gutes Verhältnis zu ihrem Mentor wie auch zu ihrem Freundeskreis, dazu zählen Filip, Papi und Efrem. Doch diese Stabilität beginnt langsam zu bröckeln. Filip, der auch als Journalist arbeitet, versucht die Geschichte von Cosminas Großvater zu rekonstruieren, er stößt dabei an seine Grenzen und auch an die des Großvaters, der glaubt, verfolgt zu werden. Cosmina glaubt sich genug davon abzugrenzen, es ist ihr jedoch nicht klar, wie sehr die Geschichte des Großvaters ihr eigenes Leben beeinflusst. Sie lässt sich auf eine Affäre mit einem jungen Mann ein, den sie gar nicht kennt, und wird von ihm sexuell bedrängt. In derselben Nacht stirbt auch ihr Großvater. Erst da merkt sie, welche Ängste auf sie wirkten.

Die vierte und letzte Geschichte erzählt von einem jungen Mann, der erst kurz vor der Wende geboren wurde und nicht weiß, welchen Idealen er folgen soll. Auf der einen Seite gibt es eine Burg, in der er als Kustos arbeitet. Auf der anderen Seite zeugen die Maschinen, die allmählich verrosten, vom sozialistischen Erbe. Er selbst lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung und weiß selbst nicht, welche Zukunft für ihn bestimmt ist. Seine Mutter meint, dass Aurica, "ein arbeitsames Mädchen", eine Frau für ihn wäre. Er selbst ist schüchtern und getraut sich kaum, sich ihr anzunähern. Sie arbeitet in der Fabrik, und da Rummel im Ort ist, lädt er sie ein. Auf dem Weg nach Hause möchte er ihr noch die Sterne zeigen, die von der Spitze einer der Maschinen aus zu sehen sind. Er verführt sie in der Kabine des Krans. Am nächsten Tag ist er von der gesamten Situation überfordert, weil er sich nicht vorstellen kann, für sich und Aurica eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

Der am rumänischen Surrealismus angelehnte Erzählstil gestattet großen Interpretationsspielraum, auch weil die Stimmen bzw. die Perspektiven schwer zu verorten sind oder von unterschiedlichen Positionen zu kommen scheinen. Die Erzählungen lassen durchschimmern, wie sehr die Gegenwart von der Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt ist, und es notwendig ist, die einzelnen Geschichten zu erzählen, sei es als Familiengeschichte, sei es als Geschichte eines Ortes, einer Region oder eines Landes.

(Christian Rohracher; 02/2018)


Varujan Vosganian: "Als die Welt ganz war. Erzählungen"
Übersetzt von Ernest Wichner.
Zsolnay, 2018. 336 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Cǎtǎlin Mihuleac: "Oxenberg & Bernstein"

Die reiche Dora Bernstein und ihr Sohn Ben aus Amerika besuchen Iasi, die Wiege der rumänischen Kultur. Eine junge Frau, Suzy, zeigt ihnen die Stadt. Wenig später macht Ben ihr einen Antrag. Sie heiraten, und Suzy fängt an, sich für die Geschichte ihrer neuen Familie und die ihrer alten Heimat genauer zu interessieren. Sie stößt auf ein Mädchen, das 1947 mit 17 Jahren nach Wien gekommen ist. Als Einzige einer angesehenen Familie ist es ihr gelungen, das Pogrom in Iasi und den Holocaust zu überleben. Im Wiener Rothschild-Spital findet sie Zuflucht und erweist sich als begabte Schneiderin. Dort trifft sie einen GI, der ihr den Hof macht. Mit diesem beeindruckenden Familienroman ist ein großartiger Erzähler zu entdecken. (Zsolnay)
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