Holger Siemann: "Das Weiszheithaus"

Ein Jahrhundertroman


Ein wahrlich großer und vielschichtiger Roman

In Zeiten wie diesen, wo der kommerzielle Erfolg eines Buches oft wichtiger als der Inhalt ist, kann man dem "Dörlemann Verlag" nicht genug dafür danken, dass dieser wirklich umfangreiche Roman des deutschen Schriftstellers Holger Siemann den Weg ins Verlagsprogramm gefunden hat. Es handelt sich um einen Roman, der auf vielen Ebenen beeindruckend funktioniert, der unterhält, der jedoch teilweise viel Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen vom Leser verlangt. Durchhalten lohnt sich jedenfalls, das sei gleich vorweg gesagt.

Der Erzähler dieses geistreichen Texts ist ein gewisser Sven Gabbert. Ein Charakter, der irgendwie eine Schelmenfigur ist. Gelernter Automechaniker, im Sommer 1989 aus der DDR nach Ungarn geflüchtet, von dort nach Wien, dann in den Nachwehen der DDR Immobilienmachenschaften, hierauf Programmierer und weiter nach Indien, dann eine Marihuana-Plantage im Himalaya-Gebirge in einer Kommune von Leprakranken. Alles zuerst mit Erfolg, dann mit Schulden. Was zuerst meist erfolgreich beginnt, endet also immer wieder tragisch, bis er in Absentia zu Schadenersatz in Millionenhöhe verurteilt wird und Privatinsolvenz anmelden muss. Nach Berlin traut er sich nun nicht mehr, zu groß ist die Wut der Anleger. Frauen spielen auch eine wichtige Rolle, er zieht von Frau zu Frau, von Kontinent zu Kontinent. Dabei wird dem Leser schnell klar: Dieser Sven ist ein Flunkerer, ein Hallodri, ein richtiger Schelm. Geflunkert wird in diesem herrlichen Roman übrigens sehr viel, die Lüge ist quasi von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil des Erzählkonzepts.

Just in dem Moment, in dem er besonders tief gesunken ist, erbt er ein großes Mietshaus in Berlin. Das Weiszheithaus. Dieses Haus gibt es einerseits wirklich, also die Adresse findet man in Berlin sehr wohl, auch viele Ecken und Straßen und bekannte Örtchen in Berlin erkennt der berlinkundige Leser sehr eindeutig. Anderes ist wieder erfunden. Das geht so weit, dass Siemann Fotos, Buchumschläge und Lagepläne in den Text montiert, die suggerieren, dass es sich um echte historische Figuren handelt. Das ist so überzeugend, dass man wirklich lange unschlüssig ist, ob man es hier nicht doch mit einem auf historischen Fakten basierenden Roman zu tun hat.

Im Mittelpunkt steht dann auch noch der in der DDR berühmte (fiktive) Schriftsteller Kurt Weiszheit, dessen Klapprechner Bauarbeiter in der Dachhalle des geerbten Weiszheithauses finden. Der Rechner ist zwar mit einem Passwort gesichert, das zu knacken für den ehemaligen Programmierer und Computernarren Sven Gabbert jedoch eine einfache Sache darstellt. Unter den Dateien auf dem Rechner findet er eine, die mit "Jahrhundertroman/Kochbuch.doc" bezeichnet ist. Dieser Jahrhundertroman ist die Familiengeschichte der Weiszheits vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart. Hier findet er quasi das Rezept für das Zusammensetzen der Puzzlesteine des bereits zuvor in Kisten gefundenen Archivs. Sogar eine Sortieranleitung ist dabei. Stichworte mit Verweisen. Alles wunderbar aufbereitet, um nun dem Leser vorgeführt zu werden.

Natürlich steht neben der Familiengeschichte das Haus im Mittelpunkt, das Haus und die vielen Personen, die in ihm Schutz, Liebe, Tragik oder auch den Tod gefunden haben. Alles vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit natürlich, was Holger Siemann ein großangelegtes Panorama der letzten Jahrhunderte erlaubt.

Ein Überblick über alle handelnden Personen, ob familiär bedingt oder durch kürzere oder längere Aufenthalte im Weiszheithaus, wäre an dieser Stelle nur verwirrend, wenn nicht gar unmöglich. Die Palette der unterschiedlichen Charaktere ist extrem bunt gestreut, sodass man hier unter Anderem sowohl vor Pinochets Regime geflüchtete chilenische Künstler findet, als auch NS-Mitläufer oder Täter, NS-Opfer, Gegner, Arbeiter, Flüchtlinge, Regimebegünstigte und durch das Regime verfolgte, jüdische Pianistinnen oder homosexuelle Schriftsteller. Dabei gelingt Siemann ein breites Gesellschaftsbild der DDR und aus der Zeit des Dritten Reiches. De facto also auch ein Porträt von zwei Diktaturen und wie der Mensch in einer solchen dem jeweiligen Regime ausgeliefert ist.

Der Aufbau von "Das Weiszheithaus" erinnert ein wenig an das berühmte Bild des Künstlers, der den Künstler malt, der das Bild des Künstlers malt, der das Bild des Künstlers gemalt hat, der ein Bild des Künstlers gemalt hat - und so weiter. Denn was Sven Gabbert nun tut, hat sein Verwandter Kurt Weiszheit bereits getan.
Zusätzlich entwickelt Holger Siemann die etwas absurde Lebensgeschichte Sven Gabberts weiter, der durch einen wirklich blöden Unfall bettlägerig wird und sich von der Frau, in die er sich soeben verliebt hat, entweder trennen oder sich von ihr pflegen lassen muss.

In diesem Aufeinandertreffen von Realität und Fiktion siegt am Ende der Leser, der über 700 Seiten gebannt den unterschiedlichen Geschichten folgt, der sich dem Sog, den Siemann hier locker generiert, nicht entziehen kann. Der sich am Ende auch noch staunend durch die zahlreichen Literatur- und Querverweise, Quellenangaben und sonstigen Informationen liest, die alles Andere als eindeutig wahr oder erfunden sind.

"Das Weiszheithaus" ist ein wunderbarer Beleg dafür, was das erzählende Genre leisten kann. Ganz große Literatur, der man eine große Leserschaft wünscht.

(Roland Freisitzer; 03/2018)


Holger Siemann: "Das Weiszheithaus. Ein Jahrhundertroman"
Dörlemann, 2017. 731 Seiten.
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Holger Siemann, 1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler, Familienhelfer und Journalist und ist Autor zahlreicher Hörspiele, Radiobeiträge und Libretti.