Aharon Appelfeld: "Meine Eltern"


Vergessen? Erinnerung. Vermächtnis!

In der Welt der Literatur gehörte die Trauermeldung über Aharon Appelfeld zu den ersten des anbrechenden Jahres. Der Autor verstarb am 4. Jänner 2018 wenige Wochen vor seinem 86. Geburtstag in Jerusalem.
Wer die Lebensgeschichte des als Erwin Appelfeld bei Czernowitz geborenen Schriftstellers nachliest, wird vor allem vom tatsächlichen Schicksal seiner Eltern berührt sein. Doch lassen wir einstweilen die Geschichte, wenden wir uns zuerst der Fiktion, dem Roman, zu.

Appelfeld beschreibt das Leben einer gutbürgerlichen Familie aus einer Stadt, die Czernowitz sein könnte. Ende der Dreißigerjahre verbringen der zehnjährige Erwin und seine Eltern Sommer für Sommer einige Wochen in einem gemieteten Holzhaus am Ufer des Flusses Pruth. Ein mildtätiger Arzt, eine verkannte Opernsängerin, die aus der Traumwelt einer längst vergangenen Liebe nicht herausfindet, eine Wahrsagerin, eine depressive Tante Julia, Jugendfreunde und Jugendfreundinnen der Eltern und einige andere Feriengäste bilden einen rein jüdischen Mikrokosmos. Der stets präsente einbeinige Mann fasst sarkastisch zusammen, was die sommerliche Welt bewegt: Gesundheit, Liebe, wirtschaftliche Fragen und die latente Sorge, ob ein Krieg bevorstehe. Der Leser ahnt bereits, welcher Krieg dies sein wird und wie er das Leben des kleinen Erwin prägt, sofern er ihn überlebt ...

Die Beziehung zu den ukrainischen Bauern ist distanziert und ambivalent. Sie sind Vermieter der Ferienhütten, liefern frische Lebensmittel, verleihen Pferde und holen die Feriengäste mit ihren Kutschen aus der Stadt ab. Das Kind beobachtet aber auch eine christliche Prozession mit bunten Fahnen und lautem, schönem Gesang, die zu einem Pogrom gegen die Feriengäste ausartet. Schnell versucht das jüdische Bürgertum zum sommerlichen Alltag zurückzukehren, bezeichnet die Aggression als ein "winziges Pogrom" ohne schlimme Folgen, denn "Wer Hilfe brauchte, hatte sie bekommen" (Seite 100). "Die Menschen sprachen darüber wie über ein unvermeidliches Unwetter. Die Bauern schienen wie zur Natur zu gehören, und es war nicht zu erwarten, dass die Natur sich vernünftig verhielt" (Seite 103). Solcherart beruhigt geht der Sommer zu Ende. Mit seinem Vater nimmt Erwin wieder das Training im Boxen und Ringen auf, um sich in der Schule gegen die antisemitischen Übergriffe von Pjotr und seiner Bande selbst zu verteidigen. Ein Grund zur Sorge? Nein, denn "die Juden übertreiben, wie es ihre Art ist, sie verbreiten Panik, man darf ihre Übertreibungen nicht beachten, man muss sich in Geduld fassen", ist Erwins Vater, einvollständig assimilierter Jude, überzeugt (Seite 245).

Das Buch lebt von der schützend vor sich hergetragenen positiven Stimmung im Kontrast zu den latenten Sorgen und Anlässen zu bösen Vorahnungen, die sich auch aus dem historischen Wissen darüber, was den dargestellten Menschen danach geschah, speist: Czernowitz war bis vor einhundert Jahren österreichisch. Damals war ein gutes Drittel der Bevölkerung in der Hauptstadt der Bukowina jüdisch, mehr als die Hälfte der Einwohner sprach als Muttersprache Deutsch, auch die Familie des Autors. Schon während der Zeit der Zugehörigkeit zu Großrumänien, 1918 bis 1940, kam es wiederholt zu Pogromen. Nach dem sowjetischen Einmarsch im Sommer 1940 behandelten die neuen Herrscher die jüdischen Einwohner als Klassenfeinde und deportierten Tausende nach Sibirien. Es kam freilich noch schlimmer: Von 1941 bis 1944 gehörte Czernowitz wieder zu Rumänien, das mit dem Deutschen Reich verbündet war ... Mit dem jiddischen Schriftsteller Josef Burg (1912-2009) starb in der heute Tscherniwzi genannten ukrainischen Stadt, dem Geburtsort der den Holokaust überlebenden Schriftsteller Rose Ausländer (1901-1984) und Paul Celan (1920-1970), einer der letzten Juden.

Und die Familie Aharon Appelfelds, dessen kindliche Identität im Buch mit seinem Geburtsnamen Erwin angedeutet wird? Rumänische Antisemiten brachten die Mutter des damals Achtjährigen um; er und sein Vater wurden in ein Zwangsarbeitslager deportiert, aus dem er fliehen konnte, um als Gelegenheitsarbeiter und dann als Küchenjunge in der Roten Armee zu arbeiten. Als blondes und blauäugiges Kind fiel er nicht auf. Bei Kriegsende war er erst dreizehn Jahre alt und hatte nur ein Jahr lang die Schule besucht. Den Vater traf er erst viele Jahre später wieder in Israel.

"Die schöpferische Arbeit braucht diesen Blick des Kindes", schreibt der Autor auf der ersten Seite des Buches (Seite 5), bevor er seinen Roman mit einem berührenden Essay über das Erinnern im Schreiben einleitet: "Du lernst von neuem, dass Worte keine Gefühle und keine Bilder sind, sie können höchstens auf sie hinweisen" (Seite 7).

In seinem letzten Buch hat Aharon Appelfeld mit schlichten Worten eine Welt von überwältigenden Bildern und tiefen Gefühlen erschrieben.

(Wolfgang Moser; 01/2018)


Aharon Appelfeld: "Meine Eltern"
Übersetzt von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin, 2017. 271 Seiten.
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