Gerhard Roth: "Die Irrfahrt des Michael Aldrian"


Atemberaubende Spannung und fabelhafte Unterhaltung, garniert mit kenntnisreichen Blicken hinter die Kulissen Venedigs

Bei "Die Irrfahrt des Michael Aldrian" handelt es sich keineswegs "nur" um einen weiteren Roman, der in den allseits beliebten Kulissen angesiedelt ist, sondern um eine ebenso temporeiche wie kulturvermittelnde, packende wie detailverliebte Geschichte über einen Mann, der sich, um zu überleben, in Venedig geradezu neu erfinden muss.
Der Roman wurde übrigens bereits auszugsweise anlässlich Gerhard Roths 75. Geburtstag im Juni 2017 im Wiener Burgtheater präsentiert, damals lasen Elisabeth Orth und Klaus Maria Brandauer.

Gerhard Roth, am 24. Juni 1942 in Graz geborener, vielfach preisgekrönter Schriftsteller, wurde im Jahr 2016 mit dem "Großen Österreichischen Staatspreis", dotiert mit 30.000 Euro, ausgezeichnet. Kulturminister Thomas Drozda (Jahrgang 1965) sagte bei der Überreichung: "Wenn es stimmt, dass Gerhard Roth eigentlich Arzt hätte werden sollen, dann ist es heute an mir, ihm zu danken, dass er sich für die Literatur entschieden hat. Die Richtigkeit der Entscheidung für die Literatur beweist sich an einem Tag, an dem die Republik Österreich die höchste Auszeichnung verleiht; und ich freue mich nicht nur als Leser Ihrer Bücher darüber, sondern auch als Kulturpolitiker. Und zwar auch deshalb, weil Ihr großes Thema, um nicht zu sagen Ihr Lebensthema, Österreich ist."
Gerhard Roth lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark, er verfasste u. A. den siebenbändigen Zyklus "Die Archive des Schweigens" sowie den "Orkus"-Zyklus, seit 1977 erscheinen seine Bücher im "S. Fischer-Verlag".

(Alb-)Traum und (Un-)Wirklichkeit
Karneval in Venedig: Unzählige maskierte Touristen und Einheimische, überall Trubel, eine ganz besondere Atmosphäre - und mittendrin Michael Aldrian, ehemaliger Souffleur der Wiener Staatsoper, der eigentlich einen ruhigen Winter bei seinem Bruder Jakob und dessen Frau Elena verbringen wollte, um für einen geplanten Reiseführer zu recherchieren, weil er seinen bisherigen Beruf nach einem Hörsturz nicht mehr ausüben kann und daher über reichlich Zeit (und Geld) verfügt.
Aufgrund seiner hilfreichen Bekannten im Kulturbetrieb ist es ihm übrigens möglich, in Venedig Funktionäre, Einrichtungen und Orte zu besuchen, die nicht jeder Tourist zu Gesicht bekommen kann, und aus diesen beeindruckenden Führungsschilderungen und Gesprächen ergibt sich Zug um Zug ein vielschichtes Bild Venedigs, zumal Michael Aldrian, anders als die meisten Touristen, Italienisch beherrscht und sich schon seit langer Zeit aufrichtig für Geschichte und Kultur der Stadt interessiert.

Doch alles kommt ganz anders als vorgesehen: Bereits die Anreise im Schlafwagen entwickelt sich zur Nervenprobe, und als Aldrian bei Hochwasser in Venedig eintrifft, sind sein Bruder, der begnadete Maler und Zeichner, und dessen Frau, eine gefragte Restauratorin, Inhaber eines Fossilien- und Perlengeschäfts, wie vom Erdboden verschluckt. Was zunächst nicht sonderlich besorgniserregend wirkt, unternehmen die beiden doch bekanntlich häufig Reisen, ohne jemandem Bescheid zu geben, entpuppt sich bald als verworrener Kriminalfall: Aldrian wird beschattet, verfolgt, vor der Haustür niedergeschlagen und beraubt, und seine besonderen Fähigkeiten, nämlich sein perfektes Erinnerungsvermögen, sein grandioses Organisations- und Schauspieltalent, seine Übersicht und seine Fingerfertigkeit, nicht nur bei Zaubertricks, werden daraufhin quasi zur Überlebensausrüstung.

Denn Michael Aldrian nimmt die Ermittlungen unverzüglich in die eigenen Hände, sodass nicht länger vorwiegend kulturelle und kulinarische Aspekte im Mittelpunkt stehen. Trotz Morddrohungen und dringender Aufforderungen, nach Wien zurückzukehren, bleibt er in Venedig, schlägt sämtliche Warnungen in den Wind, wohnt weiterhin im Haus seines Bruders und entdeckt nach und nach als Einziger bislang verborgene Zusammenhänge und Hintergründe des Vorgefallenen. Getrieben vom Anliegen, der Situation auf den Grund zu gehen sowie den guten Ruf seines Bruders und seiner Schwägerin zu erhalten und zu verteidigen, wird er vom Verfolgten zum Verfolger, vom potenziellen Opfer zum Mörder und Brandstifter!
Zwar besucht Aldrian wie geplant Museen, Kirchen und andere Kulturinstitutionen, um Material für sein Buchprojekt zu sammeln, doch die aktuellen Ereignisse bestimmen zunehmend den Takt. Und so verfolgt man gebannt Michael Aldrians Wandlung vom feinsinnigen Kunstliebhaber zum brutalen Rächer, der niemandem mehr vertrauen kann. ...

Wieder einmal befasst sich Gerhard Roth also gekonnt mit dem schmalen Grat zwischen normalem und pathologischem Verhalten bzw. der menschlichen Verfassung in Ausnahmesituationen und den Auswirkungen von akuten Krisen, doch kommen selbstverständlich auch sprachlich gediegene, wunderbare Schilderungen von Sehenswürdigkeiten, und zwar nicht nur von deren Fassaden, sondern als eindrucksvolle Zeugnisse liebevoller, zeitintensiver Erkundungen, nicht zu kurz. Beispielsweise durchwandert Aldrian den Dogenpalast nur in seiner Erinnerung und beschreibt dabei zahlreiche Details, oder er flüchtet sich wiederholt in den Anblick des Deckenfreskos in der Chiesa San Pantalon.

Mit Michael Aldrian taucht man zwischendurch in dessen Kindheits- und Jugenderinnerungen ein, vornehmlich stehen freilich sein Rachefeldzug und seine Erkundungen im Mittelpunkt, die in einem Meer von Masken und Falschgeld dubiose Doppelleben, mehr oder weniger geheime Verbrecherbündnisse, Konten im Ausland und Kunstfälschungen aufdecken. Der zuständige Ermittler Commissario Galli sieht sich mit verwirrenden Fakten konfrontiert, doch die Verhöre Aldrians liefern niemals neue Erkenntnisse, denn der ehemalige Souffleur weiß sich hinter Lügen und vorgetäuschter Ahnungslosigkeit zu verschanzen und vermag alle zu täuschen, während seine eigenen Nachforschungen ebenso zügig wie erbarmungslos voranschreiten.

Venezianische Historie und Kultur vermittelnde Abschnitte wechseln in raschem Tempo mit Krimi-Elementen, und mit Auftritt der geschiedenen Journalistin Beatrice Stefanelli entspinnt sich zudem eine Liebesgeschichte voller Höhen und Tiefen, denn jeder irrfahrende Held bedarf zumindest gelegentlich einer verständnisvollen Gefährtin.
Einige weitere Figuren sind: Lorenzo Verra, der Maestro Suggeritore des Teatro La Fenice, mit dem Aldrian die ehemalige Irrenanstalt San Servolo und Dr. Calzea aufsucht, Emilio, der lange Zeit völlig unwissende, weil im Ausland befindliche Sohn von Jakob und Elena, Dr. Dr. Galotti vom Archivio di Stato die Venezia, seines Zeichens Fachmann für Medizingeschichte, Diego Sarci, Inhaber eines Masken- und Figurengeschäfts, der jedoch auch illegale Artikel im Sortiment hat, Margherita Belucci, Elenas Schwester, und ihr Ehemann Eugenio, der nur scheinbar bürgerlich nette Sergio Celi, der hinterhältige Rahmenhändler Carlo Fibonacci, Vladimir Iwanow, der auf der Insel La Giudecca seinen finalen Auftritt hat, Dr. Zorzi, Direktor der Biblioteca Marciana, und der ehebrecherische Fischhändler Rodolfo Boscolo, dem seine letzte Stunde im idyllischen Badeort Chioggia Sottomarina schlägt.

Schusswaffen, unter mysteriösen Umständen tot aufgefundene Kriminelle, zwei abgeschnittene Hände, verschworene Einheimische, ein in Brand gesetztes Atelier, ein abgefackeltes Paradies auf der Insel Lesbos, haufenweise SIM-Karten und Mobiltelefone, ermordete Geschäftsinhaber, ein brisantes Notizbuch, zahlreiche im Meer versenkte Beweismittel, Unmengen an Alkohol, und dazwischen immer wieder musikalische Erinnerungen, bis Michael Aldrian sein Ziel erreicht hat ...

"Die Irrfahrt des Michael Aldrian", der erste Teil eines angekündigten Venedig-Zyklus, ist ein rasanter, abwechslungsreicher Roman voller wohldurchdachter Details, der sowohl Venedig-Verehrer als auch Krimibegeisterte anspricht. Fesselnde Lektüre im besten Sinn - und die Vorfreude auf die kommenden Bände ist groß!

(kre; 09/2017)


Gerhard Roth: "Die Irrfahrt des Michael Aldrian"
S. Fischer, 2017. 492 Seiten.
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Leseprobe:


(...) Er trank noch ein zweites Glas, bevor er zurück zur Kirche ging.
Sie war dunkel und leer. Als er nach oben blickte, überraschte ihn ein Fresko, das den Kirchenraum in unermessliche Himmelsweiten zu öffnen schien. Dann hatte er den Eindruck, als würde er selbst fliegen und von oben den Höllensturz, den Sturz der aufständischen Engel sehen, die sich bei ihrem Fall in Dämonen mit dunklen Flügeln verwandelten, wie auf den Bildern von Pieter Brueghel oder Hieronymus Bosch. Es herrschte unter den heiligen Gestalten ein solches Gedränge, dass Aldrian an einen Schwarm Heuschrecken dachte, der vom Höllenfeuer angezogen wurde. Links und rechts von ihnen wuchsen die Säulen eines Thronsaals empor, zwischen denen der Boden offenbar weggebrochen war. In seinem Thronsaal, so beschwor es das Gemälde, hatte Gott die Aufständischen wie durch eine Falltür in die Flammen gestürzt, in denen sie verglühten, verbrannten, verglosten und zuletzt zu Asche zerfielen.
Im Hauptgang zwischen den Betbänken entdeckte Aldrian einen Automaten, der nach Einwurf einer Münze das Deckengemälde für sechzig Sekunden erhellte. Aldrian suchte nach einem Geldstück und setzte sich in die nächste Kirchenbank. Das gesamte Panorama war nun von Scheinwerfern angestrahlt, während er im Dunkeln saß. Von unten hinaufschauend, sah er die Engelwesen auf ein gleißendes Licht zufliegen - einer natürlichen Ordnung folgend, wie Nachtfalter oder Hornissen von einer Glühlampe angezogen werden. Sie schwebten über seinem Kopf, bewegungslos, schwerelos, für einen langen Moment, für immer. Gleich darauf erlosch der Scheinwerfer, und aus dem Aufstieg in den Himmel wurde wieder der Höllensturz, und statt nach oben blickte Aldrian wie zu Beginn in die Tiefe. Eine Zeitlang betrachtete er, weitere Münzen einwerfend, das Negativ und das Positiv desselben Bildes. Es war ein großartiges Zauberkunststück, dachte er. Endlich streckte er sich in der Dunkelheit auf der Betbank aus und schlief erschöpft ein.
Er erwachte erst durch den Besuch einer Schulklasse. Die Kinder besetzten die hinteren Bänke, während die Lehrer sich vorne berieten, bis schließlich einer von ihnen mit einem Vortrag begann. Niemand warf eine Münze in den Automaten, um statt der Hölle, wie Aldrian sich sagte, den Himmel zu sehen.
Mühsam richtete er sich auf und ging unter dem leisen Gelächter der Kinder, die ihn vermutlich für obdachlos oder verrückt hielten, hinaus auf den Platz.
Zuerst wusste er nicht, was er als Nächstes tun sollte, dann rief er Beatrice an und fragte sie, ob sie sich am Abend treffen würden. Beatrice war über seine Frage erstaunt und antwortete ihm selbst mit einer Frage: ob er es sich anders überlegt habe? Sie lachte fröhlich, und er fühlte sich erleichtert.
"Nein, nein", widersprach er. "Sehen wir uns bei dir oder bei mir?"
"Wo bist du gerade?"
Aldrian log, dass er vor der Gondelwerft stehe. (...)

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