Harry Mulisch: "Archibald Strohalm"
Harry
          Mulischs furioses Debüt: ein Künstlerroman voller "kosmischer
            Unanständigkeit"
        
        Die Niederlande. Nationalfeiertag des Jahres 1950. In einer durch und
        durch anständigen Kleinstadt ereignen sich unerhörte
        Dinge: Ein durchgedrehter ehemaliger Sekretär einer
        Wohlfahrtsorganisation führt sein verstörendes
        Kasperlheaterstück vor der Kirche auf, argwöhnisch
        beäugt und verhöhnt von den
        spießbügerlichen Zeitgenossen, die ihrerseits von
        Zugvogelscharen mit Dreck bekleckert werden. Ein gerade Vater werdender
        Missgestalteter braust mit seinem kaputten Fahrrad herbei, um seinem
        längst zerstörten Vertrauten irgendwie beizustehen,
        und der monatelang von seinen Freunden angefeindete einzige
        Anhänger des sonderbaren Puppenspielers versteht die Welt
        nicht mehr, dafür gewinnt dessen Vater ebenso
        plötzlich wie unerwartet bewegende Einsichten.
        Wie es so weit kommen konnte, schildert Harry Mulischs
        mitreißender Debütroman, der den zunächst
        bieder wirkenden Angestellten Archibald Strohalm sich selbst und seinen
        Mitmenschen nach und nach völlig entfremdet, bis alles in
        einem entlarvenden heillosen Durcheinander endet, nicht von
        ungefähr am Rand des Jahrmarktstreibens.
        
        "Een korte novelle Archibald Strohalm
          ontstond, het simpele verhaal von een man met een poppenkaast en een
          kleinsteedse zonderling", (...) "Een gebied dat
          om alle psychologische of theologische naamgewvingen lacht,
          ejaculeerde
          honderden dagen achtereen in mijn bestaan. Ik wist alles. Ik begreep
          alles. Van de vroege ochtend tot de late nacht waren mijn uren gevuld
          met een koortsachtig noteren van inzichten, visionen, verlichtingen,
          euforisaties, alles van een intensiteit en zekerheid, waarvan ik later
          in Archibald Strohalm heb getracht een beeld te
          geven." So Mulisch im autobiografischen Buch "Voer voor
        psychologen" über sich und seinen Roman, worin er seinem
        Protagonisten Strohalm höchstpersönliche
        Charakterzüge einverleibt hat.
        
        Im Original erschien "archibald strohalm" anno 1952, und es sollte ein
        erstaunliches halbes Jahrhundert dauern, bis der Roman endlich
        (grandios!) von Gregor
          Seferens ins Deutsche übersetzt wurde. Immerhin ist
        die deutschsprachige Version von "Archibald Strohalm" auch heute noch
        erhältlich, anders als Mulischs 1954 publizierter zweiter
        Roman "De diamant", auf Deutsch anno 1961 in der Übersetzung
        von Bruno Loets (1904-1969) im längst von der
        Bildfläche verschwundenen Hamburger Nannen Verlag erschienen,
        für den Verleger unrentabel geblieben, und seither nicht neu
        aufgelegt.
        Erst nachdem Mulischs 1982 erschienener Roman "De aanslag" auch in
        deutscher Übersetzung ("Das Attentat", 1986)
        erhältlich war und im deutschsprachigen Raum für
        Aufsehen gesorgt hatte, erwachte außerhalb der Niederlande
        langsam das Interesse an weiteren Werken des Autors.
        
        Für "Archibald Strohalm" erhielt Harry Mulisch anno 1951 den
        damals mit 200 Gulden dotierten "Reina Prinsen Geerligs-prijs". Der
        Roman wurde mit absoluter Siegesgewissheit praktisch in letzter Minute
        vollendet, wie Mulisch in der aufschlussreichen Textsammlung "Voer for
        psychologen" in einem anno 1956 entstandenen Kapitel ausführt:
        "Het schrijven van Strohalm, een
          cataclysme op zichself, werd passend afgesloten door en hevig onweer,
          dat losbarstte toen ik het laatste woord neerschreef: 31 juli 1951, 's
          avonds 10 uur, - hetzelfde onweer dat in 1870 woedde boven Rome, toen
          het Concilie in de Sint Pieter stemde over het dogma der pauselijke
          onfeilbaarheid. Om 12 uur sloot de inzendingstermijn van de Reina
          Prinsen Geerligs-prijs, waaran ik mij voorgenomen had mee te dingen om
          mijzelf een termijn te stellen. Ik snelde naar Amsterdam, en samen met
          Jan Blokker, de winnaar van het vorige jaar, stond ik om kwart voor 12
          in de stromende regen door donder en bliksem omgeven te schreeuwen
          voor
          het grachtenhuis van de jurysecretaris, die reeds te bed lag en in
          nachtgewaad voor de ramen verscheen, verblekend van schrik voor onze
          apocalyptische verschijning en het hemelvuur in de gracht en de
          gedachte aan nóg een manuscript."
        Was für ein effektvoller Auftritt: Unter Blitz und Donner
        erschien Harry Mulisch kurz vor Mitternacht mit seinem Romanerstling!
        
        "Zwei Gespenster oder zwei Geister. Das eine fragt
            das andere: 'Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?'"
        
        Archibald Strohalm, bislang zumindest äußerlich
        unauffällig und durchschnittlich, beobachtet seit einem Jahr
        jeden Samstagnachmittag mit wachsender Empörung die
        Vorstellungen des christlich missionierenden Puppenspielers Ouwe Opa,
        der mit seinem Sohn Theodoor die Stadtbewohner, vor allem die Kinder,
        durch Furcht und Schrecken auf den rechten Weg bringen bzw. ebendort
        halten möchte. Seine Stücke über den Tod und
        das Jenseits
        sind ernst und schicksalsschwanger, die
        Atmosphäre ist bedrückend, und dennoch versammeln
        sich die Kinder und Eltern jedesmal ehrfürchtig und
        erwartungsvoll, wenn eine Aufführung ansteht. Ouwe Opa gilt
        als Respektsperson und moralische Instanz.
        "Es war die Form, in der Ouwe Opa sie präsentierte,
          die seine Wut von Woche zu Woche anwachsen ließ, so sehr,
          dass sich in ihm eine Explosivität anstaute, die ausreichte,
          um Berge zu versetzen."
        Archibald Strohalm, provoziert und erzürnt, sieht rot und geht
        aufs Ganze: Er fordert Ouwe Opa vor versammelter Nachbarschaft heraus
        und kündigt an, ein heiter-belehrendes
        Puppentheaterstück, dessen Wahrheitsgehalt alles, was Ouwe Opa
        je geboten hat, in den Schatten stellen wird, zu schreiben und selbst
        aufzuführen, welches der konventionellen Moral eine
        erweiterte, auf Lachen
        beruhende, entgegensetzt. Und diesem Ziel wird hinkünftig
        alles, wirklich alles, untergeordnet.
        
        Archibald Strohalm kündigt seine Anstellung, sehr zum
        Missfallen seines einfältigen Chefs, trennt sich von seiner
        Freundin, bricht den Kontakt zu seiner Schwester Jutje, mit der ihn
        eine ganz besondere Innigkeit verbindet, ab, und wird zum
        stadtbekannten Sonderling, zum Bürgerschreck. Nahezu
        überall sieht er tote Vögel, mitunter in bizarren
        Szenerien, und eine schleimige Verwesungsmasse, die er "Satan"
        nennt, quillt vor seinen Augen aus Gegenständen. Er leidet
        unter Kopfschmerzen, hat Visionen von seinem Schutzengel, einer Frau,
        die erotische Fantasien beflügelt, und verwahrlost
        äußerlich, während in seinem Inneren ganze
        Welten erschaffen und wieder zerstört werden.
        
        Der in der biederen Kleinstadt völlig zu Unrecht verrufene
        Maler Boris Bronislaw ("Doch dann ruderte ein
          monströses Individuum sich orangutanartig einen Weg durch die
          Menge, die unangenehm berührt Platz machte. Denn der
          Herannahende war ein Sadist, ein Vergewaltiger und Schuldner.")
        rettet bei Eiseskälte ein Hündchen aus einer Gracht,
        fortan hat Strohalm einen tierischen Gefährten, dem er den
        Namen Moses (ein "Abram" genannter Baumriese macht deutlich, dass
        Mulisch bereits in seinem ersten Roman seine Themen auch auf
        symbolischer Ebene aufgreift) gibt. Ein philosophietriefendes,
        vergangenheitstrunkenes und kreatives Kneipengespräch unter
        Männern begründet eine Art von Freundschaft zwischen
        Strohalm und Bronislaw, dessen Sohn bei einem Brand ums Leben gekommen
        ist; nicht von ungefähr lebt der Maler
        seither mit seiner Frau
        Hilde auf einem Hausboot.
        Und während Archibald Strohalm wie besessen unter dem Eindruck
        eines wiederkehrenden Traums von herabregnenden Eiern, die es alle
        unversehrt aufzufangen gilt, schreibt und schreibt (der Leser ist Zeuge
        der entsetzlichen Mühsal und des unentwegten Scheiterns),
        nimmt Bronislaws Meisterstück im Bauch seiner Hilde Gestalt an
        - stattfinden soll die Wiedergeburt des umgekommenen Sohnes Paulchen ...
        Strohalm verkörpert den leidgeplagten, einsamen, pionierhaften
        Denker, der schlussendlich den Verstand verliert, wohingegen sich der
        Tatmensch Bronislaw direkt dem Leben zuwendet; jeder auf seine Weise
        ein Demiurg.
        
        Der immerfort rückwärtsgehende besachwaltete H. W.
        Brits, dem von seinen Verwandten, den "Proleten",
        übel mitgespielt wurde, bastelt indes an einer
        monströsen Maschine, die in wenigen Monaten den Lauf der Zeit
        umkehren soll,
        der zehnjährige Bernard wird zum
        Außenseiter, weil er als Einziger an Strohalms
        Fähigkeiten glaubt, Strohalm verbrennt im Sommer sein
        Manuskript ("Das Stück war misslungen, kein Lachen
          wäre zu hören gewesen.") und schreibt
        innerhalb kurzer Zeit ein neues Kasperltheaterstück mit dem
        Titel "Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?", baut ein Puppentheater
        und bastelt Handpuppen. Eine Begegnung mit Ouwe Opas Sohn Theodoor
        verhärtet die Fronten, Strohalm erleidet wieder einen
        Zusammenbruch samt Bewusstlosigkeit, doch der Raubbau an
        Körper und Geist schreitet weiter voran.
        
        Der Besuch einiger Jahrmarktsattraktionen am Nationalfeiertag gibt
        Strohalm schließlich den Rest, wobei sein Gemüts-
        und Geisteszustand zunächst in diesem Umfeld kaum auffallen.
        Durch alptraumartige Szenen von rauschhafter Dichte (z.B. eine
        Massenorgie im stockfinsteren "Golf von Biscaya" und der
        gänzliche Identitätsverlust im Spiegelkabinett)
        taumelt der schwer angeschlagene Kasperltheatermacher weiter in seinen
        grotesken Untergang, wobei er zunächst einen Pater von einer
        Kanzel aus erzürnt, die voller Sorge angereiste Schwester auf
        später vertröstet, daheim erneut zusammenbricht und
        schließlich unter wirren Selbstgesprächen und mit
        unzusammenhängenden Gedanken mit seinem Kasperltheaterkarren
        in den Feiertagsrummel hineinfährt.
        Die geifernde, schadenfrohe Menge wartet auf den Beginn der
        Vorstellung, doch im Bretterkasten des Puppentheaters spielt sich das
        wahre Welttheater ab, und auch der hinzueilende Bronislaw kann die
        aufgebrachten und zu allem entschlossenen Kleinstädter nicht
        mehr bändigen oder gar aufhalten ...
        
        Schon in seinem Romanerstling brachte Harry Mulisch (1927-2010) alles
        unter einen Hut, was den Reiz seines Gesamtwerks ausmacht, wobei sich
        in "Archibald Strohalm" ab und zu ein allwissender Erzähler
        mit düsteren Prognosen zu Wort meldet, der dem Protagonisten
        gegen Ende dafür dankt, dass dieser an seiner Stelle alle
        Leiden eines Schriftstellers auf sich genommen hat. Danach entledigt
        sich der Erzähler seiner Figur, als würde er eine
        Handpuppe abstreifen - zurück bleibt nur eine Hülle
        ...
        Wohingegen der Tatmensch Boris Bronislaw mit seinem neugeborenen Sohn
        glücklicheren Zeiten entgegensieht und der verrückte
        H.W. Brits nicht länger rückwärtsgeht.
        
        "Archibald Strohalm" ist ein hitziger, turbulenter Roman mit einigen
        wenigen schriftstellerischen Jugendsünden, der die
        Relativität der Moralvorstellungen und die Untiefen der
        Kreativität überzeugend behandelt, die
        Selbstzerstörung eines Menschen schonungslos in allen
        Einzelheiten darstellt, die Atmosphäre einer damaligen
        niederländischen Kleinstadt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
        wunderbar einfängt - und nicht weniger als die Basis
        für das Verständnis von Mulischs Oeuvre
        verkörpert.
(kre; 06/2017)
          Harry
            Mulisch: "Archibald Strohalm"
        (Originaltitel "archibald strohalm")
        Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
        rororo, 2006. 299 Seiten.
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen