Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Die Sirene"

Erzählungen


Neben seinem berühmten Roman "Der Leopard" (Original: "Il Gattopardo"), kleineren literaturwissenschaftlichen Schriften und zahlreichen Briefen an Verwandte, in denen er in der dritten Person als "das Monstrum" mit Lust am Abgründigen von seinen Erlebnissen und Beobachtungen im halben Zwischenkriegseuropa Kunde tut, sind uns von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dem elften Fürsten von Lampedusa, auch drei Erzählungen sowie eine autobiografische Schrift erhalten, welche vier Texte in der vorliegenden Ausgabe wie schon in der italienischen Erstveröffentlichung zusammengefasst sind.

In seinen Einführungen und Erläuterungen erfährt man von dem Italienisten Gioacchino Lanza Tomasi, Adoptivsohn, Erbe und Nachlassverwalter des Schriftstellers, unter anderem einiges über die Umstände der späten Niederschrift und der späten Veröffentlichung der hier zugrundeliegenden Fassung von 1988, die Witwe des Monstrums hatte sich an manch mangelnder Privatheit und unnötiger Namensnennung gestoßen. Wenige Fotografien (z.B. ein Brief der "Die Sirene" sehr schätzenden Marguerite Yourcenar), die wichtigsten mit dem Schriftsteller verknüpften Stammbäume, zahlreiche, bei dessen Anspielungsreichtum äußerst hilfreiche Fußnoten und nicht zuletzt eine elegante Übersetzung lassen die Ausgabe als durchaus gelungen erscheinen.

"Ich könnte versprechen, nichts zu sagen, was falsch ist. Aber ich will nicht alles sagen. Ich behalte mir das Recht vor zu lügen, indem ich Dinge auslasse. Es sei denn, ich ändere meine Meinung." heißt es am Ende des Vorworts zu den "Kindheitserinnerungen", die - Beweis der Ehrlichkeitsabsicht - aus einem kleineren Teil "Erinnerungen" und einem größeren (wäre ihm nicht die Feder aus der Hand genommen worden, wohl weiter angewachsenen) Teil "Kindheit" bestehen. Indes, der Schriftsteller gibt sich sehr zurückhaltend, insofern nur wenige ausführliche Reminiszenzen Aufnahme finden: eine an das schwere Erdbeben vom 28. Dezember 1908 und seine Folgen, eine andere an höchsten Besuch, der damit begann, dass der kleine Prinz früher als sonst geweckt, aufgeputzt und hinuntergeschleppt wurde, wo die ehemalige französische Kaiserin und Gattin Napoleons III., Eugénie, "eine uralte und stark gebeugte Frau mit Hakennase" saß, sich vorbeugte und ihn küsste ("ich musste also noch sehr klein gewesen sein, wenn eine sitzende Frau sich noch mehr beugen musste, um mich auf die Stirn zu küssen."), nicht ohne vorher angeblich "Quel joli petit!" gesagt zu haben.

In ihrer Mehrzahl werden die Erinnerungen strukturiert heraufbeschworen über möglichst genaue Rekonstruktion der beiden Häuser, in denen der kleine Giuseppe aufwuchs (der große Giuseppe hatte seine Gründe, von Häusern zu sprechen, tatsächlich handelte es sich um Palazzi mit mehreren hundert Zimmern und einem riesigen Garten). Beinahe kann man hier von einer Führung durch verschiedene Lieblingszimmer seines Haupthauses in Palermo und der Sommerfrischeunterkunft in Santa Margherita sprechen (beide Palazzi und die allermeisten Gegenstände wurden im Krieg übrigens völlig zerstört), sodass die Beschreibung der kostbaren Möbelstücke, antiken Statuen von sehr persönlichem Geschmack, frühen technischen Spielereien, Porträts verschiedenster Vorfahren unterschiedlichsten Rufs etc. auch für die Kunstgeschichte, insbesondere des sogenannten Settecento, einigen Wert darstellt. 

Und auch alles andere, das da heraufbeschworen wird - was es etwa hieß, von Palermo nach Santa Margherita ins westliche Sizilien zu reisen, was damals, Anfang des Jahrhunderts, nicht weniger als zwölf Stunden in Anspruch nahm und durch teils schaurige Flecken, in deren Hauptstraße Schweine stolzierten, führte, oder dass Tagesausflüge mit in Kutschen transportierten Speisen und Getränken orgiastisch bis letal verlaufen konnten ("doch ein Eimer kaltes Wasser ins Gesicht und eine kluge Ruhepause in einem schattigen Zimmer haben ihn gerettet") oder Details aus der Erziehung des angehenden Fürsten und Schriftstellers (erst mit acht Jahren lesen und schreiben gelernt, dann gleich auch französisch, Lektüre in täglicher Abwechslung Bibel und Homer, nur am siebten Tage gab es Märchen und Abenteuergeschichten von der Großmutter) - mithin die gesamten "Kindheitserinnerungen" sind getragen von der Absicht Lampedusas, "so viele Gefühle wie möglich zu bündeln, die unseren Organismus durchströmt haben und so etwas aufzubewahren, das ohne diese geringe Anstrengung für immer verloren gehen würde."

In der Geschichte "Die Freude und das Gesetz" (dem schwächsten Text der Sammlung, wie Gioacchino Lanza Tomasi anmerkt, mit Vergnügen lesen kann man ihn gleichwohl) wildert der Schriftsteller im Milieu kleiner Angestellter, entwirft und karikiert gleichermaßen in dreisten Bildern die Nöte einer solchen Familie.

"Die Sirene" beginnt wie eine amüsante Liebeskomödie mit Einbeziehung von Süditalienerklischees, lässt im weiteren einen alten und einen jungen Sizilianer im Turiner Exil zusammentreffen und einander langsam näherkommen, um schließlich - Geschichte in der Geschichte - in einen furchtbar glühenden sizilianischen Sommer zu geraten - ein junger, schöner Student der alten Filologie flüchtet an eine ferne Küste (selbe Insel), genießt seine selbstgewählte Abgeschiedenheit, fährt mit dem Boot aufs Meer, im Schatten eines Felsens deklamiert er begeistert altgriechische Verse. Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll ...

Bei "Die blinden Kätzchen" handelt es sich nach schon erwähntem Gioacchino Lanza Tomasi um das letzte Werk Lampedusas und eigentlich um die Fortsetzung von "Der Leopard", den Beginn des geplanten Folgeromans. Es geht um die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf der Insel gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das Neue wird verkörpert durch eine ehrgeizige Bauernfamilie, die sich durch zielgerichtetes und glückliches Treiben über wenige Generationen bedeutende Ländereien aneignen und Reichtum erwerben konnte und sich nun daran macht, die Hauptstadt zu erobern, das Alte hervorragend zur Sprache gebracht in einer (vermutlich ziemlich authentischen) Clubszene, in der hohe Vertreter der palermitanischen Oberschicht beim Kartenspiel mit eskapistischem Ingrimm über die Vermögensverhältnisse des reichen Emporkömmlings diskutieren, sehr zum Vergnügen eines römischen Gastes, der nach etlichen Tagen Aufenthalt nun endlich seinen Eindruck von der Weltläufigkeit Palermos revidieren zu können glaubt.

Auch in den vier "Erzählungen", so der italienische Titel der Sammlung, erweist sich Giuseppe Tomasi di Lampedusa als großer Schriftsteller von nobel-abgründigem Wesen.

(fritz; 07/2017)


Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Die Sirene. Erzählungen"
(Originaltitel "I racconti")
Übersetzt von Moshe Kahn.
Piper, 2017. 288 Seiten.
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Giuseppe Tomasi, Herzog von Palma und Fürst von Lampedusa, wurde am 23. Dezember 1896 in Palermo geboren und starb am 23. Juli 1957 in Rom. Neben Erzählungen schrieb er innerhalb weniger Monate seinen einzigen Roman: "Der Leopard". Ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht, wurde er schnell zu einem Welterfolg. Seit 2004 liegt er unter dem Titel "Der Gattopardo" auch in einer Neuübersetzung bei Piper vor. Luchino Viscontis kongeniale Verfilmung mit Burt Lancaster in der Hauptrolle avancierte zum Kinoklassiker.