Christoph Hein: "Trutz"


Heins nächster Streich

Genau ein Jahr ist es her, dass Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater" erschienen ist. War der bedrückende Faktor in diesem DDR-Roman der tote kriegsverbrecherische Vater, der dem Sohn posthum das Leben versaut, so drückt hier die Last des zwanzigsten Jahrhunderts.

Christoph Heins Roman schlägt seine Brücken zwischen dem Berlin der 1920er-Jahre, über das Moskau der Kriegs- und Nachkriegsjahre, über sibirische Straflager bis hin zum heutigen Berlin, in dem sich die Söhne der Familien Trutz und Gejm wiederbegegnen.

Rainer Trutz flieht erstmals aus der Provinz und einem verklemmten Elternhaus nach Berlin, wo er, ohne Aussicht auf Arbeit, glücklicherweise von einer jungen Damen mit dem Auto niedergefahren wird. Sie kümmert sich um ihn, bringt ihn ins Krankenhaus und öffnet ihm, aus Dankbarkeit dafür, dass er sie nicht anzeigt, die Türen zur Berliner Gesellschaft. Die Dame ist Lilija Simonaitis, Bedienstete der sowjetischen Botschaft. Bald erscheint sogar der recht frivole Erstlingsroman von Rainer Trutz, der Aufsehen erregt.

Die Ausgabe als Folgenroman in einer Zeitung muss sogar knapp vor Weihnachten eingestellt werden. Auf seinen zweiten Roman werden die braunen Machthaber aufmerksam, was dazu führt, dass seine Wohnung aufgebrochen und seine Schreibmaschine und Manuskripte beschlagnahmt werden. Er flieht mit seiner Gudrun, einer Gewerkschaftsfunktionärin, aus dem im Nazisumpf versinkenden Berlin mit Hilfe von Lilija nach Moskau. In Berlin drohen ihnen Inhaftierung, Folter und höchstwahrscheinlich der Tod.

Zumindest deuten alle Vorzeichen in diese Richtung. Das ersehnte Paradies entpuppt sich als herbe Enttäuschung. Es erwartet sie harte körperliche Arbeit im Tiefbau der Moskauer Metro, bei dem viele völlig unbegabte ausländische Intellektuelle eingesetzt werden, oder in der berühmten Schokoladenfabrik, alles zum Gemeinschaftswohl der Roten Fahne. Alles ist viel schwieriger als erwartet, der Kampf ums Überleben steht auch hier im Mittelpunkt. Sie finden intellektuelle Zuflucht im Kreis um den Mathematiker und Linguistik-Professor Gejm. Gejm beschäftigt sich auch mit Mnemotechnik, sein Gehirn ist sein Leben, und den Rest des Lebens nahm er nicht wahr, wie er von seinem Sohn später charakterisiert werden wird.

Die Familie Gejm, die nach dem Krieg hofft, das Schlimmste überstanden zu haben, wird auseinandergerissen, und der in Ungnade gefallene Professor Gejm wird in ein Besserungslager im Ural verfrachtet, wo er wenig später, auf 49 Kilo abgemagert, von einem Baumstamm erschlagen wird.

Auch Rainer Trutz, der es zum U-Bahn Brigadier geschafft hat, stellt bald fest, dass es in keinem diktatorischen Regime Sicherheit geben kann. Wegen eines mehr als acht Jahre alten Artikels wird er denunziert und ebenfalls in ein Straflager geschickt. Dort wird er bei der Ankunft von einem Wärter erschlagen. Gudrun und Maykl werden als Hitleristen in den Ural deportiert. Nach Gudruns Tod schafft es Maykl zurück in die DDR, wo er Archivar wird. Vom Regen in die Traufe quasi, denn auch dort hören die Repressalien nicht auf. Diktatur ist Diktatur, daran ist nicht zu rütteln.

Viele Jahre später erzählt der 1934 geborene Maykl Trutz, der bereits ab seinem zweiten Lebensjahr von Waldemar Gejm mit Mnemonik zu Gedächtniskünstler trainiert wurde, die Geschichte seines Vaters. Im Mittelpunkt steht auch seine Freundschaft mit Rem, dem gleichaltrigen Sohn des Professors. Revolution, Einigkeit und Marxismus - Rem.

Der Roman setzt in der Jetztzeit bei einer Diskussionsveranstaltung zum Hitler-Stalin-Pakt ein, bei der ein älterer Herr im Publikum der vortragenden Referentin des Bundesarchivs alle Fehler nachweist, ohne sich dabei auf irgendwelche Aufzeichnungen zu beziehen. Das wird vom Erzähler, quasi dem Fakten- und Geschichtensammler dieses Romans, mit großem Interesse aufgenommen, woraufhin er den alten Mann an der Garderobe anspricht. Dieser erweist sich als Maykl Trutz. Er bietet dem Erzähler an, dass er ihn bei Interesse an der Mnemonik gerne besuchen könne.

Christoph Hein schafft es, durch kluge und äußerst sparsame Nennung von Daten, Namen und sogar Jahreszeiten, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts anhand der persönlichen Schicksale seiner Protagonisten zu zeigen. Man erlebt diese fast neu und zutiefst privat, abstrahiert vom Wissen, das man hat. Das erzeugt eine lebendige Textur, die eindringlich schildert, was solche Systeme mit den Menschen anrichten, die mit Gewalt und Repression zurechtgebogen werden sollen.

Die Unfähigkeit, zu vergessen, als Qual? Einerseits ja, andererseits ist das Gedächtnis des Menschen der Motor, der es ermöglicht, mit Wissen und Werten zu leben. Würde man das Gedächtnis der Menschheit löschen, könnte man die Menschheit gleich mitlöschen.

"Trutz" ist ein wirklich starker Roman, der vielleicht gerade jetzt gelesen werden sollte. Jetzt, weil die Gefahr wieder besteht, in neue diktatorische Systeme, die sich des Deckmantels der Demokratie bedienen, zu schlittern. Das ist große Literatur.

(Roland Freisitzer; 05/2017)


Christoph Hein: "Trutz"
Suhrkamp, 2017. 477 Seiten.
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