Max Frisch: "Wie Sie mir auf den Leib rücken!"

Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Thomas Strässle.


Wenn ich Max Frisch geistig vor mir sehe, dann stelle ich ihn mir mit seiner Pfeife vor, an der er immer wieder pafft, während er kurz überlegt, um Antworten auf die Fragen des Interviewers zu finden. Doch Fernsehinterviews mit Max Frisch waren eine Rarität. Im zu besprechenden Buch sind sie überhaupt ausgeklammert. Dafür gibt es erstmals Interviews nachzulesen, die zuvor noch nie in deutscher Übersetzung zu lesen waren oder aber Interviews, die nunmehr komplett vorliegen. Die Frage ist, ob sich für Menschen, die dem Autor Max Frisch viel abgewinnen können, etwas Neues ergibt, etwa eine buchstäblich "frische" Perspektive.

Interviews hängen stark vom Interviewer und vom Hintergrund ab. So erschließt sich ein unvollkommener Kreis von Ansichten, Feststellungen, Kommentaren, weitläufigen politischen Argumenten, Erkenntnissen das eigene Schreiben betreffend und vieles mehr. Max Frisch ist jedes Mal aufs Neue herausgefordert, sein Weltbild als Schriftsteller zu definieren. Manchmal sind die an ihn gestellten Fragen ungehörig, ja er wird richtiggehend angegriffen. Besonders ausgiebig hat dies der Journalist und Publizist Fritz J. Raddatz getan. Er gilt als "legendärer" Interviewer, wahrscheinlich deswegen, weil er zu Streitlust tendierte. So antwortet Max Frisch auf eine Frage mit den Worten "Wie Sie mir auf den Leib rücken". Diese Aussage hat es zum Untertitel des Buches gebracht und ist ein Beleg dafür, dass der Schweizer Autor keineswegs alle Fragen beantworten wollte oder konnte, die an ihn gerichtet waren. Wenn ein Interviewer die Grenze überschreitet und sein Gegenüber zu allzu intimen Geständnissen bringen will, ist der Punkt erreicht, von dem aus es eigentlich nicht mehr weitergeht. Tut es aber doch! Denn Raddatz stellt gleich darauf einfach die nächste Frage, als ob nichts passiert wäre.

Es gibt drei Aspekte, auf die ich näher eingehen möchte, und das sind freilich Komponenten, die Max Frisch grundsätzlich ausgezeichnet haben. Identität, Selbstkritik und Auswahl.

Gleich drei Theologen und Publizisten, nämlich Jens Fischer, Hanns Norbert Janowski und Eberhard Stammler, führten für die Zeitschrift "Evangelische Kommentare" im Jahr 1974 ein Interview mit Max Frisch, bei dem es auch um existenzielle Dinge wie Tod, Vernunft und Utopie ging. Am Ende des Interviews kommt der Autor auf die Befriedigung des Schreibens zu sprechen:
"Was ist das für eine ungeheure Befriedigung, das Ganze oder ein Etwas hinzustellen, einen Rohbau wachsen zu sehen nach eigenen Plänen! Darin liegt etwas Macherisches, etwas vom homo faber. Und zugleich ist es Spiel, Gestaltung, Umgestaltung."

Da meldet sich der Autor und der Architekt Max Frisch zu Wort. Zehn Jahre lang schaffte er es ja, sowohl als Architekt als auch als Autor zu arbeiten. Doch irgendwann wurde es zu viel, und er musste sich entscheiden. Beides konnte auf die Dauer nicht funktionieren. Max Frisch entschied sich - zum Glück für die Literaturgeschichte - für das Schreiben. Und so ist es keine Überraschung, dass sein Hauptthema, die Identität(ssuche) des Menschen, im Grund durch fast alle Interviews geistert. Einmal kommen die Interviewer direkt darauf zu sprechen, dann wieder bringt er die Thematik selbst ins Spiel. Der "Stiller" ist hierbei beispielgebend. Ursprünglich hätte der Roman "Ich bin nicht Stiller" heißen sollen, warum auch immer. Denn dass "Stiller" nicht mehr der "Stiller" sein will, der er gewesen ist, bevor er in den Vereinigten Staaten für eine gewisse Zeitspanne lebte, steht fest. Dass Frisch Kierkegaard mit ins Spiel bringt, und also die Unmöglichkeit, stets mit sich selbst identisch zu sein, hängt mit der Beschäftigung des Autors mit dem dänischen Philosophen und Theologen zusammen. Der Mensch muss sich stets für das Eine und gegen das Andere entscheiden. Wozu dies führt, kann nie vorausgesehen werden. Doch die eigene Identität scheint eine Täuschung zu sein. Denn warum aus dieser oder jener Entscheidung dies und jenes entstand, und also ein Ergebnis auf dem Tisch liegt, ist unklar. Der Mensch macht sich sein Leben selbst verständlich, indem er behauptet, dass dieses oder jenes wiederum dieses und jenes bewirkt habe. Und so stünde er so da, wie es sich darstellt. Identität aus Rückschlüssen abzuleiten, verbietet sich Stiller. Er will, existenzialistisch gesehen, für niemanden gehalten werden, sondern einfach sein.

Das Thema Auswahl ergibt sich allein schon daraus, dass jeder Autor zu wählen hat, welchen Stoff er behandeln will. Die Gründe, warum Max Frisch dieses Theaterstück und jenen Roman geschrieben hat, werden auch durch die Lektüre der Interviews nicht deutlich. Es scheint sich bei ihm im Lauf des Schreibprozesses so ergeben zu haben. Der "Stiller" etwa war ursprünglich ein enormes Konvolut, mit dem er überhaupt nichts anfangen konnte. Erst nach und nach entstand aus all den Einzelheiten etwas, das einen Roman ergab. Wobei gleich mühelos zum dritten Thema, nämlich der Selbstkritik, übergegangen werden kann. Max Frisch fand den "Stiller" gut genug, um ihn im Mülleimer zu entsorgen. Und auch Jahre später war er davon überzeugt, dass dieser Roman ihm nur teilweise gelungen sei. Auf die Frage, welches Buch er für am gelungensten halte, sagt er einmal: "Der Mensch erscheint im Holozän". Kann einem Autor überhaupt eine solche Frage gestellt werden?

In diesem Interviewband stehen nicht die Interviewer, sondern steht der Interviewte im Mittelpunkt. Deswegen verliere ich auch nur wenige Worte über die Interviewer. Umso wichtiger ist es, auf die Freundschaft von Max Frisch mit Bertolt Brecht einzugehen. Hierbei ist auch darauf hinzuweisen, dass das Interview in einer sowjetischen Zeitung erschien und hinreichend zensuriert wurde. Die "Literaturnaja Gazeta" erschien in Millionenauflage! Anatolij Frenkin stellte Max Frisch Fragen, die gar nicht nur politisch waren. Ganz unterschiedlich zu den Interviews gegen Ende des Buches. Und so durfte also auch Brecht nicht fehlen, von dem Max Frisch sehr viel hielt und dem er über Jahre freundschaftlich verbunden war. Wieso Brecht ausgerechnet ihn zu seinem Freund auserkoren hatte, konnte sich Max Frisch nicht erklären, zu konträr waren schließlich die Charaktere der beiden Autoren. Ich schließe meine Besprechung mit Worten von Max Frisch über Bertolt Brecht, die sehr berührend sind, und möchte zuvor nur noch erwähnen, dass die Auswahl der Interviews vielleicht ganz im Sinn von Max Frisch wäre, vielleicht aber auch nicht. Der Leser wird das Eine oder Andere aus dem Buch mitnehmen können und das Bild, das er von Max Frisch hat, zu einer Erweiterung bringen. Doch zu fassen wird Max Frisch dadurch nicht sein, es kann sich immer nur um eine Annäherung handeln.

"Ich habe ihn zuletzt etwa 4 Wochen vor seinem Tod besucht. Das war draußen in der letzten Wohnung, neben dem Friedhof. Da fiel mir auf, dass er sehr müde und ungeduldig war. Es war zum ersten Mal, dass ich aufgestanden bin und Adieu gesagt habe und er mich nicht bis zur Tür begleitet hat. Er war krank, sehr schwer krank ... Es war ein merkwürdig herzliches Verhältnis. Was ihn dazu verlockt hat, weiß ich nicht."

(Jürgen Heimlich; 04/2017)


Max Frisch: "Wie Sie mir auf den Leib rücken! Interviews und Gespräche"
Herausgegeben von Thomas Strässle.

Suhrkamp, 2017. 237 Seiten.
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