Andrej Bitow: "Georgisches Album"


Auf der Suche nach Heimat

Mindestens seit Alexander Puschkin hat der Kaukasus eine große Anziehungskraft auf russische Schriftsteller ausgeübt, was sich in Folge in zahlreichen literarischen Texten niedergeschlagen hat. Dass auch Andrej Bitow in dieser Tradition steht, ist schon aus zweien seiner Buchtitel, "Armenische Lektionen" und "Georgisches Album" ersichtlich. Letzteres, erstmals 1986 in Moskau erschienen, ist nun um zwei Texte, "Wofür wir die Georgier geliebt haben" und "Georgien als Ausland", erweitert neu aufgelegt worden. Das Buch schmücken und bereichern einige einprägsame Schwarz-Weiß-Fotografien von Guram Tsibakhashvili, Tifliser Straßenszenen, alte Porträts, georgische Landschaften.

Insgesamt sind es vierzehn kürzere Texte, in denen Andrej Bitow seine georgischen Eindrücke und Erfahrungen in gemessenem Tempo erzählend, stark reflektierend, sich Raum für darüberhinausgehende Erörterungen nehmend und dies zu einer stimmigen Einheit formend zu Papier gebracht hat. Der Bezug zu Georgien ist allerdings manchmal ziemlich subtil bzw. indirekt, etwa in "Die Beerdigung des Doktors", einer Hommage an eine heilkundige Tante, die ein wahres Muster an Empathie gewesen sein muss. Überhaupt braucht Bitow für seine Geschichten Abstand vom Beschriebenen, braucht das konturenschärfende und spiegelerzeugende Wechselspiel von Fremde und Heimat. "In Georgien schrieb ich über Russland, in Russland über Georgien. Warum musste ich mich im Dorf Golusino bei Kostroma oder in Golizyn bei Moskau von Tifliser Visionen bedrängen lassen, um dann, als ich endlich in Tiflis war, über den Leningrader Zoo zu schreiben!"  

Ein wichtiges Thema, welches in diesem Hin und Her zum Ausdruck kommt, ist Bitows Suche nach einer meist schmerzlich vermissten Unmittelbarkeit des Erlebens, allgemeine Menschheitssehnsucht und besonderes Problem mancher schon im Geschehen an den späteren Text denkender Schriftsteller. Dieser Vollständigkeit und Echtheit des Seins versucht sich Bitow in einfühlsamer, Zuflucht zu Frage-, Fortsetzungs- und Auslassungszeichen nehmender Sprache zu nähern. Gerade mit dieser (metafysischen, religiösen) Sehnsucht nach einem Sein im Augenblick hat dem Erzähler Georgien offenbar besonders gutgetan, er weiß von vielen Menschen, die seinen Weg kreuzten, zu berichten, die ungewohnte Gelassenheit, Lebensfreude, Genuss des oft Wenigen, das sie besitzen, ausstrahlen, und es ist von "jener Neugier, die besonders auf Gesichtern von Menschen lebendig ist, die immer die eigene Würde wahren" die Rede. 

Die Stadt Tiflis zwischen Orient und Okzident, ihre kuriosen Häuser ohne Straßennummern und ihre Bewohner werden mit oft staunender Sympathie beschrieben, georgische Berglandschaften mit staunender Ehrfurcht. An den georgischen Kirchen gefällt Bitow, dass sie nicht als Denkmäler des Glaubens oder Repräsentationsobjekte errichtet wurden, über ein Bergkirchlein liest man gar: "Doch noch nie war ich auf eine Kirche gestoßen, die in solchem Maße der Idee der Auslöschung in der eigenen Schöpfung untergeordnet war. Auf solche Selbstzurücknahme war ich noch nicht gestoßen. Ganz unmerklich, leise, fast flüsternd ... entführte der Erbauer die Linien unserem Blick, damit wir nicht die Kirche erblickten - nein, das ist Tand von Menschenhand, nichts als ein Bau -, sondern damit wir schauen, wo sie steht, wo wir leben: Gottes Antlitz im Spiegel seiner Schöpfung. Denn was spiegelte ihn besser?"

Andrej Bitow verleugnet seine Profession nicht, auf entsprechend viele literarische Bezüge wird man bei der Leküre stoßen. Besondere Würdigung erfahren der große georgische Dichter Schota Rustaweli, Bitows Freund, der Filmregisseur Otar Iosseliani, und natürlich Alexander Puschkin. Für letzteren sollte Georgien die einzige Erfahrung von einer Art Auslandsaufenthalt bleiben, womit die Tradition Georgiens als einzige Zuflucht und Erholung von imperialer Verfolgung für die russische Dichtung begründet wurde. 

Des weiteren behandelt der Schriftsteller die unterschiedlichsten, wenn auch miteinander verbundenen Themen wie Spielzeug als Ersatz fürs Wirkliche, die Anmut georgischer Frauen, den heißgeliebten Pelz der Russen, den Wandel des Wortes "normal" im Sprachgebrauch, das Wesen eines Hahnenschreis, die Fahrt in einem funknagelneuen sowjetischen Eisenbahnwaggon, einen Kindheitsbaum ("Wenn ich um die Ecke biege, weine ich jedesmal nicht."), Vergessen, Erinnerung und Nostalgie. Sein Buch sieht er als gelungene (da weitgehend von kleinen persönlichen Befindlichkeiten freie) Nostalgieruine, wie er schreibt, "als Denkmal für das einzige dem Bewußtsein eingeprägte Bild. Nein, Kultur wird nicht wiederbelebt, sie wird geschaffen. Kultur kann nicht unterbrochen werden, wie auch das Leben nicht unterbrochen wird. Kultur ist ewig und stetig, wir kennen sie oder kennen sie nicht."

(fritz; 07/2017)


Andrej Bitow: "Georgisches Album"
(Originaltitel "Gruzinskij al'bom")
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Mit Abbildungen.
Bibliothek Suhrkamp, 2017. 279 Seiten.
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