Kateřina Tučková: "Das Vermächtnis der Göttinnen"

Eine merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten


Das nun auch auf deutsch vorliegende Buch, das zweite der Autorin, erschien erstmals 2012 in Tschechien, wo es ein großer Erfolg und vielfach ausgezeichnet wurde. "Göttinnen"  (tschechisch: "bohyně") wurden die Heilerinnen genannt, die weit hinein ins 20. Jahrhundert in einem Teil der Weißen Karpaten an der Grenze Mährens zur Slowakei ihren Beruf ausübten und dabei Kunden von weit her empfingen, gegen Bezahlung heilten, prophezeiten, Wetterzauber betrieben, segneten und hin und wieder auch verfluchten. Dass sich so eine Tradition in diesem Gebiet halten konnte, verdankt sie unter anderem wohl der Entlegenheit der unwirtlichen Region und der Bildungsfeindlichkeit vieler dem Alkohol verfallener Einwohner (es geht die Sage, dass man dort erst Jahrzehnte später von der Abschaffung der Leibeigenschaft erfuhr, da niemand von den wenigen Lesekundigen öffentlichen Schreiben Beachtung schenkte). 

Die Autorin hat, wie sie im Nachwort schreibt, kaum etwas erfunden, sondern zu einem Großteil selbstrecherchierte Fakten verwertet, sie allenfalls unterschiedlich verknüpft und leicht modifiziert - dass eine berüchtigte Liebeszauberin so heißt wie eine Brünner Brautmodenfirma mag dabei Zufall oder ein makabrer Zug sein. Die Romanform drängte sich nicht zuletzt deswegen auf, da die Autorin in eine zweiundzwanzig Jahre ältere Vorgängerin oder zumindest Vorarbeitleisterin schlüpft, eine gewisse Dora Idesová, die vor und nach der Wende tschechische Ethnografie studiert und sich, selbst aus einer Göttinnenfamilie kommend, mit großem Eifer des Themas angenommen hat. Zwar in der dritten Person, doch aus Doras Perspektive geschrieben, erzählt der Roman von den privaten und sich vielfältig überschneidenden beruflichen Vorkommnissen ihres Lebens, dem frühen Familienunglück, den sechs Jahren, die sie bei ihrer Tante Surmena, einer geachteten Göttin, verbrachte, von ihrer Internatszeit in den siebziger Jahren, ihren privaten Problemen mit Männern, von dem behinderten Bruder und der Engstirnigkeit ihrer engeren Heimat, dem Ethnografiestudium in Brünn und dem damit wieder aufgeflammten Interesse an den Göttinnen, von ihrem Durchforsten der verschiedensten Archive (Akteninhalte werden ebenfalls in leicht modifizierter Form wiedergegeben, sodass sich der Roman auch in die Archivromanliteratur aus dem ehemaligen Ostblock reiht) und den  dabei erhaltenen Ergebnissen über die Schicksale und das Wirken früherer Göttinnen, von ihren Gesprächen mit den Letzten der Zunft, mit ehemaligen Kunden (vor allem Kundinnen) und sonstwie Beteiligten bis hinein in die neunziger Jahre.

Die Szenen, in denen Rituale und Heilungen beschrieben werden, gehören zu den fesselndsten des Romans, da ein konkreter Erfahrungsbericht durch die Suggestivkraft Tučkovás an Eindringlichkeit und Bildhaftigkeit gewinnt. Der Leser erhält so letzte Einblicke in die Überbleibsel einer archaischen Welt von vielerlei (zur richtigen Zeit gepflückten) Kräutern, Tinkturen, Kraftbündeln und Praktiken, die, wenn auch aus dem Herzen Europas kommend, schamanisch genannt werden können. Dora stellt sich die Frage nach dem Alter dieser weiblichen Tradition, in der das Wissen von der Mutter auf die Tochter (sofern, wie es der Normalfall ist, zweitere ebenfalls über die Gabe verfügt) oder auch auf Nichte oder Adoptivtochter übertragen wurde. Der heidnische Ursprung scheint recht klar, Dora, der Ethnografin, wird außerdem die schüchtern vorgebrachte These einer panindoeuropäischen Herkunft in den Mund gelegt.

Nicht nur waren manche der durchgeführten Praktiken von zweifelhafter Moralität (z.B. die Manipulation Anderer), auch die Göttinnen selbst hatten ihre individuellen Fehler und nicht immer den angenehmsten Charakter. Ein paar Geschichten handeln von Eifersucht und Streit unter den Heilerinnen und den verheerenden Folgen, die ein Fluch haben kann, wenn man daran glaubt. Oder vielleicht auch ohne zu glauben - mit der wissenschaftsgläubigen Dora, die andererseits die tatsächliche Wirkung des Handelns der Göttinnen, um die diese schon von manchem Arzt beneidet wurden, selbst erlebt hat, steht der ganze Roman in dem ungelösten Spannungsverhältnis von Rationalität und Magie. 

Einen wesentlichen Platz nimmt in dem Roman der politische und damit verbunden ideologische Aspekt ein. Das jeweilige gesellschaftliche Umfeld kommt zur Sprache, in dem die Göttinnen gelebt und gewirkt haben, die Klugheit, sich dereinst (wohl ziemlich zu Beginn der Christianisierung) in den wesentlichen spirituellen Fragen der Kirche unterworfen zu haben und keinen Sonntagsgottesdienst auszulassen, die Ahnung davon, wie wenig diese Bindung in Zeiten von Hexenverfolgungen geschützt haben mag (eine der recherchierten Göttinnen wurde als Hexe im Dreißigjährigen Krieg verbrannt), aber auch deren Brüchigkeit in neueren Zeiten, wofür etwa der sudetendeutsche Schriftsteller und (erst katholische, in der Republik dann hussitische) Priester Josef Hofer steht, dem die Verfolgung der Göttinnen ein persönliches Anliegen war und dessen Charakterbild Kateřina Tučková glaubwürdig aus dem eingesehenen Material zusammensetzt.
Einen besonders drastischen Fall von behördlicher Schurkerei in der kommunistischen Zeit weiß Dora aus ihrem engsten Umfeld zu berichten, den Fall Surmenas, Doras Tante, die sich einen mächtigen wie intriganten Feind zugezogen hat, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und dort systematisch auf Befehl von oben langsam zu Tode gebracht worden ist.
Am meisten Interesse und Wertschätzung wurde den Göttinnen im 20. Jahrhundert pikanterweise seitens der Nationalsozialisten zuteil. Im Auftrag Himmlers bereisten der Leiter seiner Hexen-Mission Rudolf Levin und der als Übersetzer fungierende sudetendeutsche Schriftsteller Friedrich Norfolk (eigentlich Friedrich Soukup) die Gegend, machten die Bekanntschaft von Göttinnen, wollten in ihnen Überbleibsel altgermanischer Kultur entdeckt haben und hielten, von dem, was sie vorfanden, begeistert, während des Krieges ihre schützende Hand über die sich nicht immer an die Regeln der Besatzer haltenden Heilerinnen. In ihrem Durchforsten verschiedener Archive stößt Dora nicht nur auf den Briefwechsel zwischen Levin und Norfolk und die Beurteilung der damaligen deutschen Aktivitäten durch die tschechoslowakische Staatssicherheit in den fünfziger Jahren, sondern kann zu ihrer Erleichterung auch feststellen, dass sich die meisten Göttinnen nicht näher mit den esoterischen Nazis eingelassen haben.


Besonders hervorzuheben ist außerdem die gekonnte Wiedergabe der jeweiligen Atmosfäre, in welche Dora eintaucht, sei es das bürokratische Umfeld ihrer Arbeit, die rohe Dorfwelt ihrer Herkunft oder nicht zuletzt die ihre Bewohner prägende Landschaft der Weißen Karpaten, die 
Kateřina Tučkovás "Das Vermächtnis der Göttinnen" neben dem sorgfältig und ausgiebig behandelten Sachthema auch in seinen Nebenläufen zu einem interessanten wie packend zu lesenden Roman macht.

(fritz; 01/2016)


Kateřina Tučková: "Das Vermächtnis der Göttinnen.
Eine merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten"

(Originaltitel "Žítkovské bohyně")
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
DVA, 2015. 416 Seiten.
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Kateřina Tučková wurde 1980 in Brünn geboren, studierte Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft. Sie ist als Kuratorin, Sachbuchautorin und Schriftstellerin tätig. Anno 2010 erhielt sie den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den "Magnesia Litera", für "Die Vertreibung der Gerta Schnirch"; für "Das Vermächtnis der Göttinnen" wurde sie mit dem "Josef-Škvorecký-Preis", dem "Tschechischen Bestsellerpreis" und dem "Magnesia Litera Publikumspreis" ausgezeichnet. Das Buch stand wochenlang auf der Liste der meistverkauften Bücher. Kateřina Tučkovás Bücher werden in elf Sprachen übersetzt.

Die Weißen Karpaten:
"Das auf mährischem Terrain befindliche Schutzgebiet Weiße Karpaten (Bílé karpaty) ist 715 Quadratkilometer groß Velká Javorina ist mit 970 Metern höchster Punkt. Im nahegelegenen Naturschutzgebiet wird der urwaldartige Laubwald bewahrt. Das vorwiegend aus Sandstein und Schiefer bestehende Gebirge besitzt keine markanten Gipfel, es wirkt von weitem eher flach. Es treten aber einige Kalkklippen auf. Wertvoll sind die ausgedehnten Eichen- und Buchenwälder, aber auch die dem Gebirge vorgelagerten artenreichen Wiesen mit ihren zahlreichen Orchideenarten. Die Mannigfaltigkeit der Pflanzen ist die Basis für den Reichtum an Insektenarten. In den weißen Karpaten leben noch Bären, Luchse und Wölfe."
Das vorstehende Zitat entstammt dem wunderbaren Reiseführer "Tschechien. Unterwegs in Böhmen und Mähren" von Kerstin und André Micklitza, erschienen im Trescher Verlag.

Ein Buchtipp:

Kerstin und André Micklitza: "Tschechien. Unterwegs in Böhmen und Mähren"

Tschechien, das Land im Herzen Europas, überrascht mit Burgen, Schlössern und mittelalterlichen Städten wie aus dem Bilderbuch, den prachtvollen Bädern mit ihren Heilquellen und den weltberühmten Brauereien. Neben der "Goldenen Stadt" Prag ist gleich ein Dutzend weiterer Orte als Weltkulturerbe ausgewiesen.
Das Land ist auch ein Paradies für Naturliebhaber: Die Mittelgebirge eignen sich zum Wandern, in der kalten Jahreszeit finden Wintersportler hervorragende Bedingungen vor, und allerorten laden gemütliche abgelegene Hütten zur Einkehr ein. Ebenso gut lässt es sich radeln, viele Landstraßen ermöglichen ausgedehnte Touren.
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