Graham Swift: "England und andere Stories"

Erzählungen


Stille Töne

Graham Swift, der 1996 den renommierten "Man Booker Prize" für seinen Roman "Letzte Runde" erhalten hat, ist einer der interessantesten britischen Autoren seiner Generation. Nicht nur "Letzte Runde", sondern auch die ins Deutsche übersetzten Romane "Wasserland", "Im Labyrinth der Nacht" und "Das helle Licht des Tages" verdienen stärkere Aufmerksamkeit, sondern auch diejenigen, die noch nicht auf Deutsch erhältlich sind.

Es sind die stillen Töne, die unaufgeregten lebensbestimmenden Ereignisse, die Graham Swift interessieren. Vor allem im vorliegenden Erzählungsband, der fünfundzwanzig unterschiedlich lange Momentaufnahmen versammelt. Momente, in denen die Erkenntnis über Verlust, Gewinn, Liebe, Glück und Pech das alles bestimmende Ereignis ist. Ereignisse, die in der Geschichte Englands der letzten fünfzig bis sechzig Jahre verankert sind und so auch ein umfassendes Gesellschafts- und Sittenbild abgeben.

Es sind Geschichten, die beispielsweise um einen nie abgeschickten Liebesbrief kreisen. Ein Brief, der als Ausdruck des höchsten Liebesglücks in der Nacht nach einer Testamentsunterzeichnung verfasst, nie abgeschickt wird. Jahre später, der Mann ist nun geschiedener Vater zweier Kinder, denkt er über die Worte nach, die er damals zurückgehalten hat. Wäre alles anders gekommen, wenn er ihr, wie zuerst beabsichtigt, den Brief einfach am Küchentisch hätte liegen lassen?
"Dann wurde ihm bewusst, dass er der Frau, die in seinen Armen schlief, Lisa, in der ganzen Zeit, seit er sie kannte, nicht einen einzigen Liebesbrief geschrieben hatte. Dabei liebte er sie inniglich, mehr, als Worte ausdrücken konnten - und vielleicht war das der einfache Grund, warum er nie einen solchen Brief geschrieben hatte."

Oder die eröffnende Geschichte, die sich mit dem Schicksal zweier Männer beschäftigt, die, beide aus ärmlichen Verhältnissen kommend, mit einem Fensterputzunternehmen für Hochhausfassaden reich geworden sind. Fein arbeitet Swift hier die Hochblüte des jungen Jahrtausends heraus, die 2008 wie ein Kartenhaus einstürzen sollte. Zwischen Urlaubsplänen, Golfspiel und Laufen ziehen Wolken auf. Das Wissen des Lesers ist hier eine wesentliche, einkalkulierte Komponente der Erzählung.

Ein Doktor erzählt gerne die Geschichte seines Vaters, der, in Indien vor der Unabhängigkeit geboren, dank seiner Kriegsverletzung in der Normandie im Zweiten Weltkrieg in England gelandet ist. Ein Ereignis, das seinen Wunsch, Arzt zu werden, erst ausgelöst hat, weil er so dem Arzt, der seinem Vater das Leben gerettet hat, auf seine Art Tribut zollt.

Graham Swift sucht in jeder Erzählung eine neue stilistische Komponente, was diesen Band zu einem sehr unterhaltenden Leseereignis werden lässt. Bei fünfundzwanzig Erzählungen ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn sich die eine oder andere hineingeschlichen hat, die nicht ganz auf dem gleichen Niveau ist. Doch auch das ist in diesem Fall nicht mehr als ein kurzes Achselzucken wert, da die absoluten Höhepunkt in der Mehrzahl sind.

In den faszinierendsten Erzählungen ist der feine Unterschied meist der überraschende Moment, der, obschon vielleicht leise angedeutet, nichtsdestotrotz eine unausweichliche Wende oder Erkenntnis mit sich bringt. Eine Art Sprachlosigkeit, die sich auf den Leser überträgt und ihn tief in die Schicksale dieser Protagonistinnen und Protagonisten hineinzieht. In einen Strudel, aus dem man nicht leicht entkommt.

Besonders stark auch die Erzählung einer Frau, die in der Trauer um den Verlust ihres Mannes an die ebenso gerade erst verstorbenen Peter O'Toole und Nelson Mandela denkt. So wird die kollektive Welttrauer um die beiden bekannten Männer zu einer Art Spiegelung ihrer Trauer um ihren nur im engsten Familienkreis bekannten Mann.

Auch Scheuerpulver kann ein Leben verändern, wie in einer anderen Erzählung der Sonderling der Straße Mr. Wilkinson mit dem Nachbarsjungen Jimmy sinniert. Jeder dichtet ihm etwas Anderes an, nur weil er daheim in Unterhosen Psalmen singt. Über die Traurigkeit, "dass einer der großen Helden der griechischen Mythologie, einer der Glorreichsten, die im Trojanischen Krieg gekämpft haben, jetzt zu einem Scheuermittel in einer Dose reduziert worden ist ..."…“

Die Geschichte des Vaters eines kleinen Kindes, der an einem milden Februartag in London Zeuge wird, wie ein freilaufender Kampfhund ein kleines Mädchen anfällt, ist ebenfalls stark in ihrer Wirkung. Während der Mann mit dem Hund ringt und ihn überwältigt, verspürt er Stolz in sich aufwallen. Die Dankesreden und Beglückwünschungen möchte er nicht mehr hören, sondern mit seiner Tochter nur weg aus diesem Park. Am Ende schweifen seine Gedanken aber in eine ganz andere Richtung ab.
"Ein Jackett konnte man ersetzen. Aber wie er Julia die Spuren der Hundeklauen - ja, die gab es -, sein von einer Auseinandersetzung gezeichnetes Erscheinungsbild, seinen insgesamt ziemlich jämmerlichen Zustand erklären sollte, das wusste er nicht."

Susanne Höbels großartig unaufdringliche Übersetzung trifft das Original ausgezeichnet und verleiht Graham Swift eine überzeugende deutsche Stimme.
Wer Kurzprosa, Erzählungen und Kurzgeschichten mag, ist mit Grahams Swifts eindringlich genau gezeichneten Bildern bestens bedient.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 06/2016)


Graham Swift: "England und andere Stories. Erzählungen"
(Originaltitel "England and Other Stories")
Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
dtv, 2016. 303 Seiten.
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