Roland Schimmelpfennig: "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts"


Der ungewöhnliche, dem Beginn des ersten Romansatzes entlehnte Titel ist bis zu einem gewissen Grad programmatisch und setzt sich mit "überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen." fort. Stimmung und wichtige Themen des Romans, Gegenwart und Zukunftsaussichten, Veränderungen und Grenzüberschreitungen, klingen darin bereits an. Dieser Wolf, ein echter, wilder europäischer Wolf und zugleich für die Personen wie die Leser des Romans dichtes Symbol und Projektionsfläche, wird es auf seiner einsamen Wanderung gen Westen tatsächlich unerschossen, unüberfahren, uneingefangen  bis nach Berlin schaffen, sich eine Zeitlang an den Rändern des Ostteils herumtreiben und bei den Einwohnern der Stadt für viel Gesprächsstoff sorgen. Nachdem als zweiter Ort der Handlung neben Berlin ein Dorf in der Nähe von Frankfurt an der Oder fungiert und das Buch an manchen Stellen eine ganz spezielle Tristesse verströmt, wird da offenbar für Connaisseure auch die Entwicklung der ehemaligen DDR und das ost-westdeutsche Verhältnis ein wenig mitbeschrieben, ein Nebenzug jedoch im Verhältnis zu den allgemein deutschen, mittelosteuropäischen, europäischen, menschlichen Belangen. Auch die Eiseskälte hängt nicht nur mit dem Gefrierpunkt des Wassers zusammen, sondern ist auch eine der Gemüter: Egozentrik, Stumpfsinn, Zerstreutheit, Mangel an Warmherzigkeit und eine eklatante Unfähigkeit zur Kommunikation kennzeichnen die Personen in dem Roman.

Diese treten vorzugsweise paarweise auf, und Kinder, gewünscht oder faktisch, spielen dabei eine wichtige Rolle, wie sie ihrerseits als Kinder ihrer Eltern schon einiges an Hypotheken mitzuschleifen haben. Da sind Jacky und Charly, Betreiber einer Trafik und Lotto-Annahmestelle in ihrem Kleinbetriebsalltag. Charly, der Ehrgeizigere der Beiden, möchte außerdem das Auge sein, jemand, der genau registriert, was sich in seinem Viertel so tut, wer um wieviel spielt, wer spätabends noch Alkohol besorgen kommt und Ähnliches. Mit dem Auftauchen des Wolfes in der Nähe wächst sein Verantwortungsgefühl, sein Verlangen, das Tier, in dem er vor allem die Gefahr sieht, zu sichten und die Menschen vor ihm zu schützen. 

Da sind weiters Agnieszka und Tomasz, zwei junge, in Berlin arbeitende Polen, sie als Putzfrau, er als Bauarbeiter, die in der Großstadt ein wenig verloren wirken, nicht recht wissen, ob und wie sie eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickeln sollen, welchem Unterfangen insbesondere die Wortkargheit von Tomasz, der die richtigen Worte nur im Geist zu bilden vermag, entgegensteht, aber auch bei den vielen bunten Vögeln, die Agnieszka im Zuge ihrer Tätigkeit kennenlernt, verliert sich der eigene Weg leicht aus den Augen. 

Schließlich das jüngste Paar, zwar im Besitz von Namen, werden sie in dem Roman, blutjung und unreif, wie sie sind, fast durchwegs der Junge und das Mädchen genannt. Sie zugezogene Künstlerstochter, er der Sohn einheimischer Arbeiter, sind sie Nachbarn aus dem erwähnten Dorf bei Frankfurt an der Oder und beschließen zu Beginn, nachdem das Mädchen wieder einmal von ihrer Mutter, einer frustrierten, in ihrer künstlerischen Entwicklung steckengebliebenen Alleinerzieherin, geschlagen worden ist, gemeinsam nach Berlin, wo ein guter Freund des Jungen lebt, auszureißen, überstürzt und im Fußweg durch den tiefen Schnee watend, die Spur des Wolfes kreuzend und dabei keine Verpflegung, jedoch unverhofft ein Jagdgewehr, welches im Verlauf der Handlung mehrmals den Besitzer wechseln wird, mit sich führend.

Auch die älteren Personen des Romans, die schon erwähnte, von schlechtem Gewissen gepeinigt auf der Suche nach der Ausreißerin blindlings nach Berlin fahrende Rabenmutter, sein ebendort lebender Vater, ein berühmter, mit einer viel jüngeren Frau wiederverheirateter Bildhauer, der Vater des Jungen, gerade erst aus der Alkoholikerentzugsanstalt entlassen und nun ebenfalls auf dem Weg nach Berlin befindlich, und ein paar Weitere, sie werden nicht zuletzt in ihrem Paarsein beleuchtet, allerdings in einem düsteren, sehr unschmeichelhaften Licht als mehr oder weniger bereits gescheitert oder vor den Augen des Lesers wiederholt scheiternd, während die Entwicklung der Jüngeren noch als offen gezeichnet wird. Diese Kontrastierung der jugendlichen, idealistischen, wenn auch bereits vorbelasteten Lebensentwürfe mit den verbrauchten, überholten und erstarrten der älteren Generation ist Schimmelpfennigs großes Anliegen, dem allerdings etwas weniger Plakativität gut getan hätte, wie auch des Autors kurze, klare Prosasätze zur Beschreibung des manchmal unwesentlichen äußeren Geschehens zwar die Klarheit von Filmdrehbüchern besitzen, für ausführlichere Innensicht und psychologische Feinzeichnung, die dem gewichtigen Thema mehr Tiefe verliehen hätten, jedoch schlecht taugen. 

Die besondere Stärke von Schimmelpfennigs erstem Roman ist das Szenische: markante Bilder, sorgfältig verwobene Handlungsfäden mit dramatischen Höhepunkten und Dialoge, die von der Schwierigkeit, die vielfältigen modernen Zerstreuungen auch nur kurz zu überwinden, dem Andern zuzuhören und die Sprache als kreatives Instrument zu nutzen, zeugen.

(fritz; 03/2016)


Roland Schimmelpfennig: "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts"
S. Fischer, 2016. 256 Seiten.
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Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.