Donal Ryan: "Die Gesichter der Wahrheit"


Einundzwanzig Wahrheiten

Donal Ryans zweiter Roman, in Großbritannien vor seinem Debütroman "Die Sache mit dem Dezember" erschienen, ist ein beeindruckender Text, der fast keine Schwächen aufweist. Virtuos stemmt er die selbstgestellte Aufgabe, einen Roman zu schreiben, der aus genau einundzwanzig verschiedenen Stimmen besteht. Kein Protagonist hat ein zweites Kapitel. Und dennoch, so unerwartet das auch nach den ersten Kapiteln ist, ergibt sich am Ende ein beeindruckendes Panorama verschiedener Erzählstränge, welche die Kernaussage dieses Romans an einen Zustand und nicht an eine Geschichte nageln. Der 1976 im Süden Irlands geborene Autor ist definitiv auch ein Meister der Eröffnungssätze.
"Mein Vater lebt immer noch die Straße runter und am Wehr vorbei in dem Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich gehe jeden Tag hin, um zu sehen, ob er tot ist, und jeden Tag enttäuscht er mich. Es ist noch kein Tag vergangen, an dem er mich nicht enttäuscht hat. Er grinst mich an; dieses ekelhafte Grinsen. Er weiß, dass ich komme, um nachzusehen, ob er tot ist."

Die Rezession ist im ländlichen Irland angekommen, und Pokey Burke, Chef der ortsansässigen Baufirma, hat sich abgesetzt. Vormals Arbeitgeber und Wohlstandsgarant, hat er nicht nur Darlehen veruntreut, sondern auch seine Mitarbeiter ohne Lohn zurückgelassen. Und die Siedlung, das laufende Projekt seiner Firma, ist unvollendet geblieben. Dieses Ereignis ist die alles verbindende Tonart des mosaikhaften Romans, die Grundstimmung dadurch festgelegt.

Besonders bestechend ist, wie Donal Ryan die inneren Reaktionen auf den von außen kommenden Schockzustand zeichnet. Eine Art fatalistische Hinnahme des anscheinend gar nicht so überraschenden Moments, dass die große Blase der schönen neuen Häuser und der sicheren Arbeit so plötzlich geplatzt ist.

In diese bereits mollgeschwängerten Töne setzt Donal Ryan scharfe Dissonanzen des verinnerlichten Schadens, den die Bewohner des kleinen Dorfes seit Generationen mit sich getragen und weitergegeben haben. Gewalt, Alkohol, Missbrauch verschiedenster Arten und eine gehörige Portion Rachegelüste sind nur einige der Zutaten, die hier bestimmend sind, um das kaputte Bild des gar nicht idyllischen Dorflebens perfekt zu machen.

Natürlich bedient sich Donal Ryan aus dem reichen Fundus der irischen Literatur, sodass einige Kapitel fast wie Hommagen anmuten. Wenn es da um eine verunglückte Entführung geht, dann scheint da plötzlich Patrick McCabe Pate gestanden zu sein, an anderen Stellen Flannery O'Connor und Yeats.
"Bernie kam ein paar Wochen später zu mir. So lange wird das Getuschel gebraucht haben, bis es seine haarigen Ohren erreichte. Er kam hier reingestürmt wie ein Bulle. Ich erinnere mich, dass ich ihn angrinste wie eine Schwachsinnige; ich dachte wirklich, dass er gekommen wäre, um sein Kind zu sehen. Er sagte kein Wort, schlug mir einfach mitten ins Gesicht. Dann holte er noch einmal aus und schlug wieder zu, genau auf den Mund."

In diesem Sammelsurium der rabenschwarzen Tragikomödien gibt es alles, was man sich wahrscheinlich von irischer Literatur erwartet. Da gibt es das naive, leichtgläubige und bald nicht mehr unschuldige Dorfmädchen. Die ebenso naive Lily, die sich immer in die falschen Männer verliebt, bis sie ihr fünftes Kind zur Welt bringt. Der gewaltbereite Vater, der seinen allseits beliebten Sohn nur scheitern sehen will, der nur zu trinken beginnt, um den Hof des Großvaters zu versaufen und "auszupissen", und wieder mit dem Saufen aufhört, als der Hof des Großvaters verloren und somit nicht mehr für seinen Sohn verfügbar ist. Die alleinerziehende und kreditabzahlende Mutter, die mit ihren Kindern in der Geistersiedlung wohnt, obwohl die Häuser noch lange nicht fertig sind. Die Arbeitnehmer, die übriggeblieben sind, die nicht einmal gemeldet waren, die legalen und illegalen Arbeiter. Jene, die tratschen und jene, über die getratscht wird.

Die Figuren sind unsicher, ihre Herzen drehen sich (wie im Originaltitel klug angedeutet) im Wirbel dieses Zustands. Sie versuchen, ihren Platz in dieser plötzlich so veränderten Welt zu finden, in der die Karten so unvorteilhaft neu gemischt wurden.

Ryans Figuren erzählen ihre Geschichten, scheinbar unabhängig voneinander. Sie erzählen einfach drauf los, schütten dem Leser ihr Herz aus, sodass man sich bald fast wie ein Psychiater oder Polizist fühlt, der sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund alle einundzwanzig Geschichten anhören muss, um sich ein Gesamtbild der Misere dieses kleinen Dorfes und der einundzwanzig Persönlichkeiten, die hier alle auf ihre Art und Weise Helden sind, zu machen. Das ist manchmal banal, dann wieder erschütternd, pointiert, witzig, tragisch und außergewöhnlich; und weil jede einzelne Geschichte authentisch und überzeugend ist, kann man einfach nicht anders, als hier zuzuhören bzw. weiterzulesen.

Anna-Nina Krolls Übersetzung ist trotz der immensen Schwierigkeit, diesen im Original doch sehr rauen, irischen und mit unflätigen Worten bestückten Text in eine adäquate deutsche Sprache zu bringen, die dem Original in Stimmung und Farbe um nichts nachsteht, wirklich blendend gelungen.

(Roland Freisitzer; 10/2016)


Donal Ryan: "Die Gesichter der Wahrheit"
(Originaltitel "The Spinning Heart")
Übersetzt von Anna-Nina Kroll.
Diogenes, 2016. 256 Seiten.
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Donal Ryan, geboren 1976 in Nenagh, im Süden Irlands, studierte Bauingenieurwesen und Jura in Limerick, wo er bei der Staatlichen Behörde für Arbeitnehmerrechte beschäftigt ist. Für seinen zweiten Roman "Die Gesichter der Wahrheit" (im Original 2012 erschienen) wurde Ryan mit dem "Irish Book Award" und dem "Guardian First Book Award" ausgezeichnet. Der Roman stand außerdem auf der Kandidatenliste des "Man Booker Prize" 2013.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Sache mit dem Dezember"

John "Johnsey" Cunliffes Gedanken sprudeln wie ein Wasserstrahl in seinem Kopf herum und wollen sich nicht zu Wörtern und Sätzen bändigen lassen. Deshalb sagt er meistens nichts. Er schweigt, als seine über alles geliebten Eltern sterben, schweigt, als ihn die Nachbarn drängen, sein Land zu verkaufen, schweigt, als er brutal zusammengeschlagen wird und Gefahr läuft, sein Augenlicht zu verlieren. In dieser dunkelsten aller Stunden taucht Siobhán an seiner Seite auf, in deren freundliche Stimme Johnsey sich auf der Stelle verliebt. Mit ihr kehrt für einen kurzen Moment das Licht in sein Leben zurück. Doch das Rad der Ereignisse hat längst begonnen, sich zu drehen, und niemand vermag es mehr aufzuhalten. (Diogenes)
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