Rüdiger Görner: "Georg Trakl"

Dichter im Jahrzehnt der Extreme


"Trakl lallt nicht in seinen Gedichten." (S. 71)

Ein "Dichter-Flüsterer" am Werk: Ortungsversuche

Rüdiger Görner, 1957 geborener Träger des "Deutschen Sprachpreises 2012" der "Henning-Kaufmann-Stiftung",  wirkte in der Saison 2013/14 als Gastprofessor an der Universität Salzburg. Mit dem Rüstzeug eines unerschrockenen Literaturwissenschafters ausgestattet, bahnte er sich furchtlos einen Pfad durch den sonnenlosen Traklwald und sorgte darin mit germanistischer Genauigkeit für gelegentliche Lichtungen, beließ dem Dichter jedoch - notgedrungen? - manche seiner Rätsel und Geheimnisse, wobei die - je nach Vorkenntnissen des Lesers - mehr oder weniger bekannten Gegebenheiten (Freundschaften, z.B. mit Erhard Buschbeck oder dem Herausgeber des "Brenner" Ludwig von Ficker, Bekanntschaften, z.B. mit Karl Kraus und Oskar Kokoschka, dominante Salzburgimpressionen, Religionsmotive, Musikalität, Entrücktheit, Rauschzustände, Verhältnis zur Schwester Grete usw.) Darstellung erfahren.

Georg Trakls Leben endete am 3. November 1914 im Garnisonsspital in Krakau, wohin er nach einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch im Zusammenhang mit entsetzlichen Kriegserlebnissen zur Beobachtung gebracht worden war, infolge einer selbst herbeigeführten Kokainvergiftung.

Jung verstorbene Künstler umgibt aus der Perspektive der Nachgeborenen nicht selten eine Aura des Mystischen, das Publikum lechzt geradezu nach Details der Lebensläufe jener Begnadeten, deren jeweiliges Schicksal ihnen ein tragisches Ende beschert hat.
Ausgerechnet anlässlich seines einhundertsten Todestages, welch stimmiger morbider Widerhall!, beschäftigten sich einige Autoren mit dem so früh verstorbenen Dichter Georg Trakl, dessen düstertrunkenes Werk und stellenweise sensationstauglich geheimnisumwittertes, sich beharrlich entziehendes Dasein (Drogen! Inzestverdacht! Genie und Wahnsinn!) bis heute eine gewisse Faszination ausstrahlen.

Es lag also auf der Hand, wieder einmal das ebenso kurze wie intensive Wirken eines Lyrikers, dessen charakteristischer Wortschatz und typische Themen einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen, ins jubiläumsversessene Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. So boten sogar die "Salzburger Festspiele" dem Dichter anno 2014 im Rahmen des Weltkriegsschwerpunkts quasi eine Bühne, nämlich in Form des Theaterdebüts  des "Büchner"-Preisträgers Walter Kappacher (Titel: "Der Abschied", Paul Herwig gab darin unter der Regie von Nicolas Charaux einen gewaltig monologisierenden Trakl).

Die Überschriften der Hauptkapitel von Rüdiger Görners Publikation lauten: "Vorworthafter Dreiklang", "Finale Anfänge: Die Sammlung 1909", "'Im Rausch begreifst du alles.'", "Entgrenzungsversuche: Wien - Innsbruck - Venedig - Berlin oder Ist überall Salzburg?", "Gedichte, 1913", "Poetische Farbwelten oder Schwierigkeiten mit dem (lyrischen) Ich", "Zum Tode dichten. Ein Selbstgemälde und 'Begegnung mit Sterbenden'", "Sebastian im Traum oder 'Die Verwandlung des Bösen'", "'An Mauern hin. Lyrische Endzeitlichkeiten", "Nachleben im Ungeborenen", "Anhang".

Rüdiger Görner hat jedoch keine chronologisch aufgebaute Biografie vorgelegt, vielmehr einen gelehrsamen assoziativen Text, eben eine subjektiv gefärbte "Studie", auf ausgewählten Gedichten Trakls fußend und beinahe beiläufig hier und da die Vita des Dichters sowie seine Lebensumstände berührend: "Trakls Dichten exponierte die Metapher, setzte sie frei, beließ sie jedoch in unaufdringlichen, aber eingängigen Sprachformen. Wie dies geschah und unter welchen lebensgeschichtlichen Voraussetzungen, von denen sich Trakl zunehmend verzweifelt abzustoßen bemühte, davon versucht dieses Buch Zeugnis abzulegen." (S. 26) "Womit wir Trakls Werk näherkommen? Wenn wir seine Dichtungen als genau komponierte Gefühlsräume begehen, das Gespür dieser Gedichte für den Zustand der Welt aufspüren und uns selbst neu orten in der sensorischen Aura dieser Gedichte." (S. 32)

Im Vordergrund steht also unumstößlich Trakls lyrisches Schaffen, das nach Görners Auffassung im Zeitgefüge sowie im lokalen Literaturbetrieb verortet und in Bezug zu anderen Geistesgrößen (z.B. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Dostojewski, Nietzsche, Novalis, Hölderlin und Stefan George, auch Oswald Spengler) gesetzt zu werden verlangte. Dieser an sich untadelige Ansatz greift allerdings zu kurz, um die vermutlich intendierte Spannung über gleich 305 Seiten und den Leser bei der Stange halten zu können.
Dichterische Wendungen und Strukturen werden auf dem Präsentierteller nach allen Regeln der Kunst bespiegelt und ergründet. Die 26 Seiten Fußnoten sprechen hinsichtlich der eher stiefkindlich behandelten Rücksichtnahme auf Lesefreundlichkeit überdies eine deutliche Sprache. Stellenweise hemmungslose germanistische Exkurse in Form nichtendenwollender Textinterpretationen, Ausführungen zu Trakls unterschiedlichen Fassungen gewisser Gedichte ... etwas weit hergeholt scheint da der knallige Untertitel "Dichter im Jahrzehnt der Extreme" - wobei durchaus Ansichtssache sein dürfte, welches Jahrzehnt letztlich als jenes "der Extreme" in die (Literatur-)Geschichtsbücher Eingang finden wird.
Rüdiger Görner stellt jedoch sehr wohl bisweilen interessante Querverbindungen zwischen Trakls Gedichten her und erweitert zudem die Trakl-Literatur um bemerkenswerte Ansätze, z.B. "Dieses Runde des Gesichts nun erinnert an das in Trakls Dichtungen so prononcierte O (...) Wie man diesen Vokal auch liest oder lesend zum Tönen bringt, der Bezug auf dieses Selbst-Bild Trakls, hat man es einmal in sich aufgenommen, der Verweis auf diese auffällige Gesichts- und Mundrundung, erfolgt beinahe zwangsläufig." (S. 182/183)

Auffallend ist immer wieder, dass nicht wenige Germanisten eines bekannten Schriftstellers bedürfen, sei er lebendig oder tot, um ihre geschärften Formulierungen und hochfliegenden Gedankengänge in Form von Sekundärliteratur an Ihresgleichen oder "normale" Leser zu bringen. Doch selbstverständlich kann und soll Trakl (auch) ohne "Gebrauchsanweisung" gelesen werden! Vorgekaute Mahlzeiten bieten bekanntlich nicht annähernd den gaumenkitzelnden Genuss frischer Speisen, sollten diese auch manchmal halbgar oder versalzen sein; die ureigene Empfindung vermag nun einmal durch nichts ersetzt zu werden.
Thematisch zu diesen Gedanken passt, dass Görners Darlegungen reizvolle Aspekte bezüglich Trakls allfälliger synästhetischer Erfahrungen aufzeigen (S. 158).

Rüdiger Görners zweifellos wohldurchdachte Interpretationsvariationen können jedoch getrost ebensogut als Ermutigung zum Entdecken eigener Ansätze verstanden werden, wenngleich des Autors Stil auch auf Leserebene Germanistenniveau heraufzubeschwören scheint, wobei Görners Ausführungen ironischerweise mitunter erheblich pathetischer als Trakls Gedichte wirken.
Andererseits wird an manchen Stellen mit nahezu nichtender Nüchternheit zerfragt und bewertet, nicht selten verwelkt währenddessen das behandelte Gedicht und zerfällt vor den Augen des staunend der dargebotenen Analyse folgenden Lesers zu schnödem Druckerschwärzestaub.
Sei's drum! Georg Trakl selbst hat bekanntlich niemals den Geschmack der Massen bedient - weshalb sollte also jemand, der über Trakl schreibt, dies tun?
Interessant ist diesem Zusammenhang, dass Georg Trakl mit nur einer einzigen öffentlichen Lesung in Erscheinung getreten ist, nämlich am 10. Dezember 1913 in Innsbruck.

Dass man es mit Mutmaßungen bezüglich etwaiger interdisziplinärer Zusammenhänge im Eifer auch übertreiben kann, beweisen Aussagen wie z.B. "(...) wobei fraglich ist, ob Trakl, der Mozarts Musik eher fernstand, davon Kenntnis hatte" (S. 93). Wem mag mit derlei Überlegungen gedient sein? Oder: "Wiederum ist nicht im Einzelnen nachweisbar, ob Trakl davon (gemeint ist die Einführung von Gauguins Bilderwelt in die Wiener Moderne; Anm.) unmittelbare Kunde hatte und was er von diesem Polynesien-Kult damals aufnehmen konnte." (S. 134)
Gewiss, der Autor der Studie stellt mit solchen Aussagen sein allem Anschein nach umfassendes Kulturgeschichtswissen trefflich in die Auslage, aber: Geschieht dies zum Ruhm Georg Trakls oder zum Ruhm Rüdiger Görners?

Warum auch immer, blieben Bilder im gegenständlich besprochenen Buch weitgehend ausgespart, lediglich fünf kleinformatige Schwarzweißabbildungen wurden eingestreut, was vor allem deshalb besonders befremdlich wirkt, weil Trakls farbiges Selbstbildnis von Görner ausführlich thematisiert wird. Das Umschlagbild zeigt übrigens eine aus der Feder Max von Esterles stammende Karikatur, die Trakl laut Rüdiger Görner gar nicht zusagte. Der unverständliche Verzicht auf angemessene Illustrationen verleiht Görners Studie eine akademisch anmutende Strenge. Die Belesenheit des Autors bricht sich hingegen bereits eingangs des Buches verschwenderisch Bahn, denn nicht weniger als vier Zitate werden dem Leser zum Geleit mitgegeben.

Wesentlich mehr für das Auge hat Hans Weichselbaums anno 1994 im Otto Müller Verlag erschienene edle Trakl-Biografie zu bieten (aber Achtung: nicht in der optisch abgespeckten Neuausgabe von 2014). Die Ausgabe aus dem Jahr 1994 beeindruckt mit 215 Seiten sowohl aufgrund der hervorragenden Gestaltung mit großformatigen Schwarzweißbildern (und einer farbigen Abbildung des Selbstbildnisses!), gediegenen Texten und Dokumenten, als auch des gebotenen Faktenreichtums; ein wahrer Prachtband, eine unverzichtbare Fundgrube und bis heute absolut einzigartig.

Rüdiger Görners extravagante Schwerpunktsetzungen ergaben ein beachtlich umfangreiches Buch, und er hat mit wachsamem Rundumblick für Zwischen(farb)töne seine Sache insgesamt wahrlich nicht schlecht gemacht. Der Zeitaufwand, den seine Studie bestimmt erfordert hat, sowie sein überaus gewähltes Deutsch verdienen ebenfalls gebührende Anerkennung.
Für mit Vorwissen und Durchhaltevermögen ausgestattete Leser stellt "Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme" bereichernde Lektüre dar.

(kre; 01/2015)


Rüdiger Görner: "Georg Trakl.
Dichter im Jahrzehnt der Extreme"

Zsolnay, 2014. 352 Seiten.
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Rüdiger Görner ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Kulturgeschichte am Queen Mary College der Universität von London. Er schreibt regelmäßig für die "Neue Zürcher Zeitung" und "Die Presse". Bücher (u.A.): "Unerhörte Klagen. Deutsche Elegien des 20. Jahrhunderts" (2000) und bei Zsolnay Herausgeber von Alexander Lernet-Holenias "Fragmente aus verlorenen Sommern. Gedichte" (2001).

Ein weiteres Buch des Autors:

"Rainer Maria Rilke"

Die Vielfalt von Rainer Maria Rilkes (1875 bis 1926) Lebensstationen spiegelt sich im Werk des "letzten Dichters" wider. In dieser kompakten Darstellung folgt Rüdiger Görner Rilkes Spuren, verwehrt sich aber den gängigen Einordnungen und Periodisierungen. Es geht ihm vielmehr um den Prozess des Schaffens und um die Geschlossenheit des Werkes. Görner zeigt Rilke in seiner Zeit und analysiert die wichtigsten Einflüsse. Auf behutsame Weise werden Leben und Werk miteinander verwoben, und Görner veranschaulicht die Wirkung der Musik, der bildenden Kunst und der Politik. (Zsolnay)
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Weitere Buchtipps:

Hans Weichselbaum: "Georg Trakl. Eine Biografie".

Früh endet das Leben des berühmtesten Salzburger Dichters: Georg Trakl stirbt mit 27 Jahren am 3. November 1914 in Galizien an einer Überdosis Kokain. Die vorliegende Biografie enthält neue Entdeckungen, die bisherige biografische Darstellungen korrigieren. Hans Weichselbaum erzählt die schwierige Lebensgeschichte eines begabten jungen Mannes, beginnend mit der Übersiedlung der Familie nach Salzburg, wo den Trakls der gesellschaftliche Aufstieg gelingt. Kurz nach der Jahrhundertwende beginnt Georg Trakl mit ersten literarischen Versuchen, es sind - ganz ungewöhnlich für den späteren Lyriker - Theaterstücke. Etwa in dieselbe Zeit fallen auch erste Experimente mit verschiedenen Drogen, von denen Trakl Zeit seines Lebens nicht mehr loskommen wird. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 meldet er sich freiwillig als Sanitäter. Die erlebten Gräuel der Schlacht bei Grodek stürzen ihn in Verzweiflung, ein Nervenzusammenbruch und Suizidversuch lassen ihn selbst zum Opfer werden.
Hans Weichselbaum führt die Lebensgeschichte des Salzburger Expressionisten Trakl mit neuen Forschungserkenntnissen zusammen. Die Biografie wurde aus Anlass von Trakls 100. Todestag neu überarbeitet. (Otto-Müller-Verlag,)
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Gunnar Decker: "Georg Trakl"
Gunnar Decker nähert sich der Biografie eines "unlebbaren Lebens". In der Schlacht von Grodek im September 1914, als die maschinelle Menschenvernichtung des Ersten Weltkrieges ihren Anfang nahm, ging ein Zeitalter unter - und mit ihm für Georg Trakl, der als Sanitäter auf verlorenem Posten dabei war, eine überlieferte Bilderwelt. Decker trifft in Gedichten und Selbstzeugnissen über Trakls Salzburger Kindheit, über Drogen, Ekstase und Selbstzerstörung, nicht zuletzt über seine verbotene Liebe zur Schwester Grete auf einen barocken Totentanz mit den existenzialistischen Zügen von Gewalt und Zärtlichkeit. (Deutscher Kunstverlag)
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Georg Trakl: "Sämtliche Gedichte"
Georg Trakl ist einer der bedeutendsten Vertreter des deutschsprachigen Expressionismus, doch sein Werk weist weit über seine Zeit hinaus. Kaum ein Lyriker der Moderne hatte solch großen Einfluss auf die nachfolgende Generation wie er. Tod, Verfall und der Untergang des Abendlandes sowie die Suche nach Gott sind die zentralen Themen, die er in kraftvollen Bildern und einer melodisch-rhythmischen Sprache umsetzt. Er träumt von einem neuen Menschen und der Rückkehr zu einer paradiesischen Unschuld. Der vorliegende Band versammelt sämtliche Gedichte Trakls in chronologisch-thematischer Reihenfolge. (Insel)
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Walter Kappacher: "Trakls letzte Tage & Mahlers Heimkehr"
"Trakls letzte Tage" beschreibt die letzte Lebensphase des Dichters Georg Trakl, die dieser im "Irrentrakt" des Garnisonshospitals in Krakau verbringt. Trakl, als "Medikamentenakzessist" ins Heer einberufen, erlebte die "purpurne Woge" der Schlacht bei Grodek (in der heutigen Ukraine) gleich am Beginn des Ersten Weltkriegs. Als sich ein Schwerverwundeter vor seinen Augen erschoss, wollte auch Trakl sich umbringen, wurde jedoch vorerst daran gehindert. Nun ist er "zur Beobachtung seines Geisteszustandes" in Krakau. Seine Begleiter: Verse von Barockdichter Johann Christian Günther, Novalis, Baudelaire und Rimbaud, vor allem die Erinnerungen an seine Schwester Gretl, seinen Förderer Ludwig Ficker und, als treuester, das Kokain.
"Mahlers Heimkehr" spielt im Schlafwagen eines Zuges. Gustav Mahler (1860-1911), in Amerika vor kurzem noch gefeiert, findet seine Werke nun als "triviale jüdische Musik" geschmäht. Von Krankheit und Kränkungen geplagt, wünscht er sich, dass ihm die geliebte Almschi aus den Schriften Gustav Fechners vorliest - und man ihm sein "Lied von der Erde" auflegt.
Die beiden Texte schrieb Walter Kappacher im Auftrag der "Salzburger Festspiele". Trakls letzte Tage, mit dem "Young Directors Award" 2014 ausgezeichnet, erscheint in einer erweiterten Lesefassung. (Muery Salzmann)
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