György Dragomán: "Der Scheiterhaufen"


Die Wunden der Erinnerung an eine Diktatur

"Der Scheiterhaufen" ist György Dragománs zweiter in deutscher Sprache erschienener Roman. In seinem Erstling "Der weiße König" war der Protagonist ein elfjähriger Junge, der mit aller Vehemenz versucht, sich in Ceauşescus Rumänien zu behaupten. Schon dieser Roman war ein literarisches Ereignis, und "Der Scheiterhaufen" hat nicht nur alle Erwartungen an den zweiten Roman erfüllt, sondern ordentlich übertroffen.
Geboren wurde György Dragomán 1973 in Siebenbürgen, in einer Familie der ungarischen Minderheit in Rumänien. 1988 übersiedelte er mit seiner Familie nach Ungarn, wo er heute auch lebt.

Seit Ceauşescus Sturz sind zwei Jahre vergangen, und wir begegnen Emma, einer dreizehnjährigen Waise, die eines Tages von einer Frau aus dem Waisenhaus abgeholt wird, die behauptet, ihre Großmutter zu sein. Der Großvater ist tot, Emma ist ein besonders kluges Kind, das eine rege und extrem präzise Beobachtungsgabe besitzt.

Emma lebt danach mit ihrer Großmutter in einem Häuschen, das auch zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur noch immer von den Geistern dieser vereinnahmt wird, die sich während der Nächte als seltsame Gäste entpuppen. In dieser Situation versucht das Mädchen, zu sich zu finden. Als sich Emma in Péter verliebt, der einen Falken und ein Motorrad besitzt, sieht sich die Großmutter an die Geschichte ihrer ersten Liebe zu Miklós erinnert. Aus diesem Strom der Erinnerungen beginnt die Großmutter zu erzählen. Sie erzählt von der aus dem Getto geflohenen jüdischen Familie, die man im Schuppen versteckt hat, den Emma interessanterweise, als wäre die Vergangenheit Gegenwart, nicht betreten darf.
"Das Eis ist grau, gar keine Eisbahn, sondern ein See, wir laufen auf einer Eisfläche voller Sprünge, man darf nicht daran denken, schon zu spät, das Eis unter uns knarrt und knistert, wird gleich durchsichtig, ich sehe die Toten unter dem Eis, mit ausgebreiteten Armen, gelösten Haaren, offenen Augen schwimmen sie, und wie wir über sie hinweggleiten, kreischt das Eis unter unseren Schlittschuhen, alle, die ich auf den Fotos gesehen habe, sind da, aber nicht nur sie, auch Großvater ist da, auch Mutter und auch Vater."

"Der Scheiterhaufen" ist ein Roman, der sich mit der Erinnerung beschäftigt, mit Flüchtigkeit und einer bizarren magischen Ebene, die nichts mit der Realität zu tun hat. Er ist auch ein Entwicklungsroman, der virtuos einen perfekten Kontrapunkt von Wirklichkeit und Magie schafft. Diesen untermauert György Dragomán mit Symbolen und Metaphern für die Flüchtigkeit, wie beispielsweise Sand und Mehl, in das die Großmutter immer wieder Bilder zeichnet. Oder Ameisen, die einen zerrissenen Zettel auf wundersame Weise wieder zusammenfügen. Mit diesen Mitteln nimmt Dragomán die Realität auseinander, was dazu führt, dass man die magische Ebene als realistischen Zufluchtsort der Figuren versteht, die hier mit den Wunden umzugehen versuchen, die ihnen durch die Ereignisse aus den Jahren der Diktatur zugefügt wurden.

Undurchsichtig bleibt der Tod der Eltern Emmas, ebenso wie der Tod des Großvaters, der im Gefängnis gestorben sein soll. Ob von der Securitate ermordet, oder durch die eigene Hand, um der Schmach und der Scham, Spitzel gewesen zu sein, zu entgehen, falls er überhaupt je einer gewesen ist, all das bleibt ebenso diffus, wie der Aufenthaltsort von wichtigen Akten, die am Ende in leeren Särgen der Toten gefunden werden, die sich davongemacht haben, um die Geschichten für sich selbst sprechen zu lassen.

Wie bei einem wirklich großen Autor zu erwarten, ist die politische Komponente nie im Vordergrund, nie Selbstzweck, sondern schimmert durch den See der Wahrnehmungen des jungen Mädchens durch. Sehr ausgefeilt ist auch das Tempo der Erzählung György Dragománs, das bereits im langsamen Bereich angesiedelt ist, jedoch immer wieder elegant langsamer wird, wenn es um Gewalt oder Sadismus geht. In diesen Momenten hat man fast das Gefühl, das Geschehen in Zeitlupe wahrzunehmen, wie beispielsweise in der Szene, in der die Turnlehrerin Emma einen fies sadistischen Zweikampf mit ihrer Freundin Krisztina austragen lässt. Die beiden müssen mit bloßen Händen Sand in Säcke füllen und damit um den Sportplatz laufen. Immer wieder. Der Verlierer muss den Sieger am Ende auf Knien um Verzeihung bitten.
"Der Sand ist kalt und klebrig, sobald ich hineingreife, spüre ich den Schmerz von den Hieben in meinem Handteller. Ich lege die Hände aneinander und bohre sie mit gestreckten Fingern in den Sand und fülle den Sack, ohne die Hände zu krümmen, dann tut es nicht so weh. Der Sack füllt sich schnell, es ist nicht der ganz große Zuckersack, man hatte ihn längs entzweigeschnitten und mit dünnem Kupferdraht zusammengeflickt, er sieht aus wie eine lange Wurst."

Dass all das nichts mit einer idyllischen Kindheitserzählung zu tun hat, ist längst klar, gerade auch deshalb, weil der kindlich naive Tonfall, der einen fast dunklen Glanz in Dragománs Prosa zaubert, dem Leser die Geschichten unprätentiös und gleichzeitig erschütternd nahebringt. Dass das funktioniert, muss zu einem Großteil auch der Übersetzung Lacy Kornitzers angerechnet werden, die maßgeblich dazu beiträgt, dass sich György Dragománs literarische Welt dem Leser wie eine Wundertüte öffnet und diesen wunderbaren Roman zu einem großen Ereignis werden lässt.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 12/2015)


György Dragomán: "Der Scheiterhaufen"
(Originaltitel "Magyla")
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer.
Suhrkamp, 2015. 495 Seiten.
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Leseprobe:

(...) Ich kann meinen Blick nicht lösen, ich sehe, wie sich der Zeiger dreht, dreht und dreht, das Waschbecken ist voller Wasser, voll kaltem, kaltem Wasser, ich habe es eingelassen, um mir das Gesicht zu waschen, um nicht mehr so heftig zu weinen, die Genossin Polizeioffizier sagte, als sie mich entließ, ich solle mir das Gesicht waschen. Sie war freundlich, streichelte mir sogar den Arm, obwohl ich sie wieder schlagen wollte, sie wieder treten wollte, sie wieder beißen wollte, ich wollte, dass sie weggeht, zurückgeht, dorthin, wo sie hergekommen war, dass es wieder so ist, als wäre sie nie die Treppe hinaufgestiegen, als wäre sie nie vor unserer Tür stehen geblieben, als hätte sie nie bei uns geklingelt, als hätte sie nie unsere Wohnung betreten, als hätte sie mir nie gesagt, ich solle mich setzen, als hätte sie nie erzählt, was sie erzählt hat von meiner Mutter und meinem Vater und von dem Kohlenlaster, als hätte sie nie gesagt, dass sie es bedaure, dass sie es ehrlich und von Herzen bedauere, als hätte sie nie gesagt, dass ich stark sein soll. Ich will, dass sie zurücknimmt, was sie gesagt hat, ich will, dass es nicht wahr ist, ich will, dass alles wieder so wird, wie es früher war, bevor sie kam und alles verdorben hat, ich will, dass Mutter und Vater wieder nach Hause kommen.
Ich stecke den Stöpsel in den Abfluss und stelle das Wasser ab, ich will den Strudel nicht mehr sehen. Schluss damit.
Ich tauche mein Gesicht ins Wasser, es ist sehr kalt, auch die Hände tauche ich ein, ich presse sie mir ans Gesicht, drücke sie mir auf die Augen, halte die Luft an, ich will nicht atmen, will nicht an Vater und Mutter denken, will nichts denken, das Wasser ist eisig, meine Hände sind eisig, nur die Luft unten in meiner Lunge ist heiß, ich nehme die Hände vom Gesicht. Ich umklammere das Waschbecken, öffne die Augen und verschnaufe, ich sehe die Luftblasen meines Atems, sie prallen gegen das Waschbecken, zerplatzen, kleinere Blasen entstehen, wirbelnd schwimmen sie vor meinen Augen, nur nicht anrühren, denke ich, das ist alles, nicht bewegen, das kalte Wasser einatmen, die Nase, den Mund, die Kehle, die Lunge damit füllen, statt Luft das eiskalte Wasser einatmen. Das weiße Email des Waschbeckens ist ganz nah, ich sehe die zarten Risse, ich will das Wasser in mich hineinatmen und kann nicht.
Ich reiße meinen Kopf aus dem Waschbecken, wild, als wäre nicht ich es, die ihn hebt, fast hätte ich mir den Nacken am Wasserhahn angeschlagen. Auch meine Hand gerät in Bewegung, selbständig, als wäre sie nicht meine Hand, sie greift hinein, fasst den Metallring und reißt den Stöpsel heraus, der Abfluss schmatzt, schluckt das Wasser, ich weine nicht, starre wieder in den Strudel, der sich dreht, dreht und dreht, entdecke ein langes schwarzes Haar, ich weiß, es ist von meiner Mutter, es war ins Waschbecken gefallen, als sie sich vor der Fahrt noch kämmen wollte. Ich greife mit zwei Fingern ins Wasser, um das Haar zu schnappen, es gelingt nicht, der Strudel reißt es in den Abfluss. Ich starre das leere Waschbecken an, mein Gesicht ist kalt, ich kann nicht mehr weinen, will den Wasserhahn aufdrehen, will wieder den Strudel sehen. Von weitem, von draußen, höre ich die Stimme der Genossin Polizeioffizier, sie fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei, ich starre ins Waschbecken, will hinausrufen, nein, nichts ist in Ordnung, nichts, nichts, nichts, dann sage ich aber doch, ja, ich komme gleich. Kalt und ruhig ist meine Stimme, eine fremde Stimme, sobald ich sie höre, weiß ich auch schon, dass es meine Stimme ist, ich greife zu dem kleinen Brett unter dem Spiegel, nehme Mamas Kamm, fahre mir damit durchs Haar, es knistert.
Jemand ruft mich beim Namen, eine fremde Stimme, die Stimme meiner Großmutter, sie fragt, wie spät es sei. Die Armbanduhr liegt in meiner Hand, ich sehe den Sekundenzeiger, wie er, ohne zu stocken, im Kreis geht, seine Runden dreht und dreht.
Ich will etwas sagen, es ist drei viertel vier, sage ich. In Ordnung, sagt Großmutter, viertel nach vier unten am großen Tor, mit deinem Gepäck.
Ich werde dort sein, sage ich und starre auf die Uhr. (...)

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