Jochen Distelmeyer: "Otis"


Tristan und die Odyssee

Immer wieder gibt es Bücher, die beim Lesen so falsch, so unrichtig anmuten, dass man sich trotz des bereits existierenden Beigeschmacks mit Quellen und Autoreninterviews beschäftigt, um dann vielleicht doch noch, basierend auf neuen Erkenntnissen, eine zweite Lesung zu versuchen. Jochen Distelmeyers Debütroman "Otis" ist ein perfektes Beispiel dafür, dass diese Herangehensweise zumindest partiell positiven Einfluss auf die Rezeption eines Buchs haben kann.

Der Roman beschäftigt sich mit nur wenigen Tagen im Februar 2012, nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten. Einige "gesellschaftliche Ereignisse" aus diesen Tagen finden in diesen Text Eingang, wie beispielsweise George Clooneys Schlaflosigkeits-Geständnis.
Tristan Funke ist nach Berlin gekommen, um eine verflossene Liebe zu vergessen. Er ist "Junggeselle. Mitte dreißig. Deutscher, nicht wohlhabend. Verträumt, etwas wehmütig" und trifft sich mit einem Verleger, dem er sein "Work-in-progress", einen Roman über Homers "Odyssee", anbietet. Er flaniert durch Berlin, beschäftigt sich mit der "Odyssee", versucht mit dem Abschied eines Freundes klarzukommen, der nach Amerika geht, und er sinniert über unsere Zeit. Natürlich auch bei Streifzügen durch das Berliner Nachtleben.

Zu den Figuren zählen ein Lyriker, die Fotografin Leslie, eine Schauspielerin und Tristans Cousine. Es gibt aber auch einen Literaturkritiker, der unter Zeitdruck eine Rezension zu einem noch nicht erschienenen Roman schreiben soll, eine möglicherweise gar nicht so unrealistische Zeichnung der Realität.

Über die Beschäftigung mit der "Odyssee" versucht Distelmeyer, die Verknüpfung zur Kritik unserer Gesellschaft und dem Geschehen um uns herum herzustellen. Das gelingt auch gut, vor allem, wenn man es abstrakt vom Autor nur als Gedanken des Protagonisten betrachtet. Der Autor selbst, so die Kernaussage einiger Interviews, will "die Welt, die mich hier umgab, besingen, das Fest und den Reichtum schildern". Dieses Besingen des Reichtums, des Festes und der Welt lässt den Text sehr oft ins Rhapsodische abgleiten. Er will aber auch gegen das Vergessen schreiben, worauf die vielen fast enzyklopädischen Passagen schließen lassen, die immer wieder vorkommen, wenn Tristan Funke seinen Protagonisten an den historisch wichtigen Orten Berlins auftauchen lässt. Man erfährt dabei einiges über das Holocaustdenkmal, über 9/11, sogar über die "Piratenpartei" und nebenbei auch noch vom krankheitsresistentesten Busfahrer Berlins, der in so-und-so-vielen Jahren nur
zwei ganze Tage krank gefehlt hat.

Die Figuren in diesem Roman dürfen ihre vorerst sinnlosen Ideen, Urteile oder Gedanken durch (vermeintlich) sinnvolle Ideen, Urteile und Gedanken ersetzen, was höchstwahrscheinlich eine bewusste Darstellung der Idee der Korrektur von Banalem durch Einsicht sein soll. Das ist verständlich, allerdings ist die Wandlung, oder die Motivation dahinter, nicht immer nachvollziehbar oder glaubhaft.

Einige der Figuren sind relativ leicht enttarnt, wie zum Beispiel Rainald Goetz, Maxim Biller und Hans Barlach. Die Querverweise und Anspielungen nicht immer, und ob das Ansehen einer "Darts"-Meisterschaft im Fernsehen möglicherweise doch mit den Pfeilen zu tun haben soll, die Odysseus für das Töten der Belagerer seiner Frau verwendet hat, sei dahingestellt. Vorstellbar wäre es ...

Am Ende spitzt sich alles zu einem großen Fest zu, bei dem erstmals alle Protagonisten aufeinander treffen und einige Personen Monologe halten. Natürlich ist das nicht alles, der Rezensent möchte aber nicht zu viel verraten.

Mit den Aussagen Distelmeyers zu seinem Roman wird klar, dass das, was er mit seinem Roman will, nur wenig mit einem wirklich erzählenden Text zu tun hat. So kann man teilweise extrem banale Dialoge als Ausdruck einer Generation, einer Zeit lesen wollen, was sie allerdings nicht besser macht. So muss man sich die Frage stellen, ob man das so lesen möchte. Aus dem Text selbst wird klar, dass Jochen Distelmeyer viel mitteilen möchte, was letztendlich doch eher den Beigeschmack übrig bleiben lässt, viel erklärt bekommen zu haben, aber keine Erzählung gelesen zu haben. Dadurch bleibt man am Rand des Texts zurück, nimmt wahr, nimmt zur Kenntnis und meint, die Absicht des Autors zu verstehen.

Alles in allem ist "Otis" ein interessanter Versuch, ein literarisches Werk zu schreiben, das sich unserer Zeit über Homer nähert. Einiges ist auch, im Licht der Aussagen des Autors, sehr sympathisch. Anderes wieder gar nicht. Die Sprache, vor allem die der Dialoge, mag streckenweise so gewollt sein, ist aber letztendlich, im Kontext eines literarischen Werkes, teilweise vielleicht doch eine Spur zu banal. Auch die Stringenz eines erzählerischen Fadens, der durch mehr getrieben wird, als den Wunsch, zu erzählen, fehlt zumindest diesem Rezensenten ...

(Roland Freisitzer; 03/2015)


Jochen Distelmeyer: "Otis"
Rowohlt, 2015. 282 Seiten.
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Jochen Distelmeyer, 1967 geboren, ist Musiker, Komponist und Dichter. Er wurde als Frontmann der Musikgruppe "Blumfeld" bekannt. Jochen Distelmeyer lebt in Berlin.