Hanns-Josef Ortheil: "Die Berlinreise"
Im Sommer 1964 reisen der
          damals zwölfjährige Hanns-Josef Ortheil und sein Vater nach Berlin
        
        Etwa ein Jahr nach der "Moselreise"
        unternimmt der kluge und sensible Vater erneut eine Reise mit seinem
        Sohn. Dieses Mal, wir schreiben das Jahr 1964, geht es nach Berlin, in
        jene Stadt, in der der Vater und die Mutter im Jahr 1939 ihre erste
        gemeinsame Wohnung bezogen haben. Dort stehen noch zwei Koffer mit
        Habseligkeiten der Mutter, die sie dort zurückgelassen hat. Da die
        Mutter nicht mitkommen will, (es verbinden sich zu viele dramatische
        Erfahrungen mit diesem Lebensabschnitt), fährt er mit dem Interzonenzug
        allein mit seinem Sohn. Sie übernachten in einer Pension und treffen
        sich oft mit alten Freunden.
        
        Der zwölfjährige Johannes, so nennt ihn sein Vater, macht sich in einem
        Heft wie schon bei der Moselreise viele Notizen, die er dann zu Hause in
        wochenlanger Arbeit zu einem romanhaften Bericht ausarbeitet, den er
        1964 zu Weihnachten seinem Vater schenkt. Im Unterschied zu "Die
        Moselreise" bekam Ortheils Mutter diesen Roman nie zu lesen, weil sein
        Vater befürchtete, er könne zu viele belastende Erinnerungen in ihr
        wachrufen. Er wanderte, wie Ortheil in seinem Vorwort berichtet, in das
        Familienarchiv, wo er erst vor einiger Zeit wiederentdeckt und mit
        wachsendem Erstaunen gelesen wurde.
        
        Unverändert wird dieses Buch nun veröffentlicht, das, wie schon "Die
        Moselreise" das große literarische Talent des gerade Zwölfjährigen
        zeigt, dem es sehr sensibel gelingt, feine Stimmungen aufzufangen und in
        Worte zu fassen. Er beobachtet die Menschen, die er in Berlin trifft,
        ganz genau, und ihm gelingt es meisterhaft, die Atmosphäre in der
        eingeschlossenen Stadt zu beschreiben. Er macht sich seine eigenen
        Gedanken zu Dingen, die er sieht, oder Begriffen, die er hört. Als ein
        linientreuer Stadtführer in Ostberlin etwa einen Lobgesang der DDR
        anstimmt und ihm der Vater danach erklärt, ein solches Lügen nenne man
        "Dialektik", notiert er in seinem Buch:
        "Dialektik ist bestimmt etwas sehr Durchtriebenes und Kompliziertes.
          Jedenfalls klingt das Wort so. Es klingt nach Zaubertricks oder nach
          einem mehrfachen Axel auf dem Eis, nach dem der Eiskunstläufer
          plötzlich im Eis verschwindet und sich in Luft auflöst. Ich vermute
          'Dialektik' muss man ein Leben lang üben, und selbst wenn man es ein
          Leben lang geübt hat, kann man mit ihr sehr leicht abstürzen."
        
        Eine Fülle solcher luzider Beobachtungen und Beschreibungen enthält
        dieser Roman des zwölfjährigen Ortheil. Vor allem seinen Vater und
        dessen Stimmungen, die dessen Erinnerungen hervorrufen, beobachtet er
        sehr genau. Nachdem sie irgendwann die beiden vor Jahren in
          Berlin zurückgelassenen Koffer geöffnet haben, darf der Junge in
        den Haushalts- und Tagebüchern der Mutter lesen. Sie öffnen ihm einen
        Teil des Lebens der Mutter, der ihm bisher unbekannt war. Mit einer
        hohen Sensibilität spürt er, was in seinem Vater vorgeht, und erfährt
        von ihm nach und nach Details der bewegten und dramatischen
        Familiengeschichte. Der frühe Tod seiner Brüder, die Kriegserlebnisse
        des Vaters.
        
        Und immer wieder schreibt er seiner Mama Postkarten zwischendrin, Texte,
        die von einer großen Liebe auch zu seiner Mutter zeugen, etwa:
        "Liebste Mama, ich weiß genau, dass ich heute Nacht von Dir träumen
          werde. Ich werde davon träumen, wie Du früher durch Berlin gefahren
          bist und wie Du Dir alles angeschaut hast. Und ich werde davon
          träumen, wie Du in der Wohnung mit Papa gelebt hast. Schließlich werde
          ich auch davon träumen, dass ich bei Dir bin, und zwar damals, früher.
          Das stimmt natürlich nicht, denn ich war ja nicht bei Dir. Aber im
          Traum stimmt es dann doch."
        
        Schreibend begreift der Junge, wie das Leben am Anfang des Zweiten
        Weltkrieges für seine Eltern
        war, und geradezu sehnsüchtig sucht er nach einer eigenen Verbindung zu
        dieser Welt.
        
        Der Rezensent hat sich nach der Lektüre dieses faszinierenden Buches
        gefragt, ob im Jahr 1964 irgendein deutscher Verlag dieses Werk eines
        gerade Zwölfjährigen veröffentlicht hätte, und welche Wirkung dessen
        genaue und feinfühlige Beobachtungen insbesondere des gesellschaftlichen
        Klimas im Berlin des Jahres 1964 bei der Kritik gehabt hätte.
(Winfried Stanzick; 07/2014)
Hanns-Josef
            Ortheil: "Die Berlinreise"
        Luchterhand Literaturverlag, 2014. 288 Seiten.
        
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