Alix Ohlin: "In einer anderen Haut"


Der zweite Roman der kanadischen Autorin

Warum eigentlich helfen Menschen einander? Was treibt Menschen dazu, sich für andere regelrecht aufzuopfern? Tun sie es, weil sie sich lieben? Weil sie sich danach besser fühlen? Oder etwa auch, weil sie das Gefühl der Macht, welches das Helfen ihnen vermittelt, genießen, auch wenn sie es sich selbst niemals eingestehen würden?

Die Protagonisten im vorliegenden in viele Sprachen übersetzten Roman haben alle miteinander in irgendeiner Weise von diesem "Helfergen" etwas abbekommen, und es bringt sie in unterschiedliche, manchmal auch unmögliche Situationen.

Da ist zunächst die Psychotherapeutin Grace, die eines Tages während eines Langlaufs einen leblosen Mann mit einem Strick um den Hals im Schnee findet. Sie lockert die Schlinge, ruft den Notarzt und begleitet den lebensmüden bewusstlosen Mann in die Klinik. Vielleicht schon ein Schritt zu viel. Doch es kommt noch härter: Als der Mann, bald erwacht, dem behandelnden Arzt erzählt, er und Grace seien ein Ehepaar, das sich gestritten habe, und er habe lediglich die Hilfsbereitschaft seiner Frau testen wollen, wird sie, indem sie nicht widerspricht, Teil einer großen Lügengeschichte. Sie hat, von ihrem Mann Mitch geschieden, der Anziehungskraft, die dieser Mann im Schnee in offensichtlicher Not auf sie ausübte, nicht professionell widerstanden. Sich selbst redet sie ein, in den Augen des Mannes bei der Lüge einen "Lebensfunken" entdeckt zu haben, den sie "unbedingt bewahren, vom leisen Flackern zu einer richtigen Flamme fächeln" will.

Grace fährt Tugwell, so heißt der Mann, nach Hause und bleibt über Nacht bei ihm - die nächste Grenzüberschreitung. Tugwell wird sich bedeckt halten, in der nächsten Zeit kaum mit Grace sprechen, und doch trifft sie sich immer wieder mit ihm und beginnt sogar eine Beziehung. Warum sich Tugwell umbringen wollte, bleibt lange im Dunkeln, die Beziehung zwischen Helfer und Opfer, wie immer beim Helfersyndrom, von Angst und Unfreiheit geprägt.

Es gibt aber noch zwei andere Hauptfiguren, deren Lebenswege Alix Ohlin verfolgt und die beide mit dem Leben von Grace verwoben sind. Zum Einen ist dies Annie, ein junges Mädchen, das an seinen Eltern leidet. Ohne Gefühle wird sie von ihnen bevormundet und klein gehalten. Annie schnippelt immer wieder an sich herum und hat eine Technik entwickelt, mit der es ihr gelingt, Menschen dazu zu bringen, ihr weh zu tun. Sozusagen das Spiegelbild des Helfersyndroms. Grace kann ihr kaum helfen. Erst als Annie viel später nach New York gezogen ist und fluchtartig alles hinter sich gelassen hat, um dort Schauspielerin zu werden, erlebt sie zum ersten Mal so etwas wie Familie, als sie, in einem ihr unbegreiflichen Helferimpuls eine junge  Frau und einen jungen Mann bei sich wohnen lässt und beide vor der Obdachlosigkeit bewahrt.

Und es gibt Graces ehemaligen Mann Mitch, der ebenfalls als Therapeut arbeitet und seine zweite Frau zurücklässt, um in die Arktis zu gehen. Dort will er im Rahmen einer befristeten Tätigkeit einer Inuit-Gemeinde helfen, mit ihren Alkoholproblemen zurecht zu kommen; ein hoffnungsloses Unterfangen eines "hilflosen Helfers" (Wolfgang Schmidbauer). Als sich einer seiner Patienten dort umbringt, kehrt er nach Kanada zurück, als gebrochener Mann.

In wechselnden Zeitzonen ("Montreal 1996 - New York 2002- Igaliut 2006") verfolgt die 1972 in Montreal geborene Autorin Alix Ohlin Lebenswege und Schicksale ihrer Personen, die durch eine mächtige Kraft miteinander verbunden sind. Sie sind alle in der Tiefe ihrer Existenz einsam und suchen die Nähe zu anderen  Menschen, indem sie diese, ihnen helfen wollend, von sich abhängig machen.

Alix Ohlin gelingt es hervorragend, diese Geschichten miteinander zu verbinden, und bei aller scharf herausgearbeiteten Beschreibung der negativen Folgen nicht reflektierten Helfens, hält sie für ihre Protagonisten auch immer etwas bereit wie sinnvolles, an sein Ziel gekommenes Leben.

Fazit:
Ein beeindruckender Roman mit tragischen und dennoch auch schönen Lebensgeschichten.

(Winfried Stanzick; 02/2013)


Alix Ohlin: "In einer anderen Haut"
(Originaltitel "Inside")
Übersetzt von Sky Nonhoff.
C.H. Beck, 2013. 351 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Noch ein Buchtipp:

Wolfgang Schmidbauer: "Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer"

Ihr Beruf ist es, zu heilen, zu schützen und zu pflegen, aber ihre wahre Aufgabe ist es, mehr zu tun als ihre Arbeit, nämlich darum zu ringen, dass die, die Hilfe benötigen, nicht völlig aus der Gemeinschaft herausfallen. Immer mehr Menschen aus helfenden Berufen geraten dabei selbst an den Rand ihrer Kräfte. Für Sozialarbeiter, Therapeuten, Ärzte, Psychologen, Drogenberater und viele mehr fasst Wolfgang Schmidbauer in diesem Buch die wichtigsten Inhalte seiner drei "Helfer"-Erfolgstitel zusammen und führt zeitgemäß in das Thema ein.
Eine echte Hilfe für Menschen in helfenden Berufen. (rororo)
Buch bei amazon.de bestellen