Bodo Kirchhoff: "Die Liebe in groben Zügen"


Liebe, aufs Ganze

"Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."

Bodo Kirchhoffs Roman beschäftigt sich mit dem wahrscheinlich wichtigsten Thema der Literatur überhaupt, der Liebe.
Sechshundertsiebzig Seiten lang geht er der Frage nach, wie man mit dem Geschenk der Liebe, inklusive aller damit verbundenen Schwierigkeiten, umgehen kann und gemeinsam alt werden kann.

Bernhard Renz ("Renz") und Verena Wieland ("Vila"), lange verheiratet, leben wohl situiert in Frankfurt und haben eine wunderschöne Zweitresidenz am Gardasee. Renz verdient gut mit dem Schreiben von Serien für das Vorabendprogramm, und Vila gibt kulturelle Ratschläge im Fernsehen. Das Paar hat auch eine erwachsene Tochter, deren Abtreibung der Auslöser für die Krise des Paars ist, die im Mittelpunkt dieses Romans steht.

Die 52-jährige Vila verfällt einem mehr als zehn Jahre jüngeren und bindungsunfähigen Mann, während der 63-jährige Renz eine Affäre mit der sterbenskranken Marlies, die obendrein gut zwanzig Jahre jünger als er ist, hat. Diese Konstellation steht im Mittelpunkt dieser opulenten Liebes-Sinn-Suche.

Zusätzlich verwebt Bodo Kirchhoff die Geschichte von Renz und Vila mit der Geschichte einer mehr als achthundert Jahre zurückliegenden Liebe, nämlich der zwischen dem heiligen Franz von Assisi und der heiligen Klara. Eine Geschichte, die zwar höchstwahrscheinlich nicht beweisbar ist, (der Rezensent hat zumindest keine belegbaren Hinweise gefunden), in Kirchhoffs Händen aber durchaus glaubwürdig und überzeugend ist. Eine Geschichte, die auf feine Art und Weise als eine Art Spiegel der viele Jahrhunderte später stattfindenden Liebe des Frankfurter Paares wird.

Auf der einen Seite das Paar im Luxus, auf der anderen Seite Franz und Klara: geschorene Köpfe, verfaulte Zähne und Hunger. So grundverschieden hier die Ausgangsbasis ist, so ähnlich sind sich die beiden Paare am Ende.

Ohne Scheu geht Bodo Kirchhoff aufs Ganze, im Sezieren der Begehren, Irrungen und psychischen Zustände seiner Protagonisten lässt er fast nichts aus. Er gesteht dem sozialen Kreis eigene klischeehafte Dialoge genauso zu, wie das im Umkreis der Liebe nur selten oder nie fehlende Pathos, da tun sich Abgründe auf, man ist Zeuge von liebestoller Verantwortungslosigkeit der Beteiligten und der hingebungsvollen Erfüllung von Gewohnheitsbindungen.

Was diesen Roman stark von den früheren Romanen des Autors unterscheidet, ist, dass nun eine starke Frauenfigur im Mittelpunkt steht. Eine Frau, die das Zentrum aller hier stattfindenden Liebeshandlungen ist. Eine Frau, die sich im Begehren des jüngeren Liebhabers, der wiederum eine etwas absurde Art von selbsterfundener Heiligenfigur zu sein scheint, noch einmal erleben will und auch erlebt. Eine Frau, die, um ihre Liebe zu Renz vor der ultimativen Zerstörung zu retten, das wahre Ausmaß ihrer Lust auf den jüngeren Liebhaber verschweigt. All das, während sie wohl versteht, dass sie eigentlich nur wie gewohnt den Alltag mit Renz verbringen will.

Bodo Kirchhoff hat mit seinem auf der Liste des "Deutschen Buchpreises" 2012 angeführten Roman einen melancholischen, stimmungsvollen und stilistisch großartigen Roman geschrieben, auf den sich der Leser allerdings schon sehr bewusst einlassen muss, wenn er sich dieses Traktat über Liebe und Eros nicht entgehen lassen möchte. Vielleicht auch das ein Grund, warum das Buch dann weder mit dem "Deutschen Buchpreis" ausgezeichnet wurde, noch den eigentlich verdienten großen Lesererfolg erzielen konnte.

Der Autor riskiert auch, in dem er bewusst Protagonisten anbietet, mit denen sich die meisten Leser höchstwahrscheinlich kaum identifizieren werden können, zu abgehoben und in einer sehr spezifischen Gesellschaftsschicht verstrickt sind Vila, Renz und das restliche Personal des Romans.
Das schafft eine beruhigende Distanz zum Leser; eine Distanz, die es ermöglicht, den Worten des Autors quasi wertfrei und offen zu folgen, ohne sich an einer Identifikationsfigur reiben zu müssen.

Großartige Prosa, ein überzeugender Stil und eine starke Geschichte in einem wichtigen, großen Roman: absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 01/2013)


Bodo Kirchhoff: "Die Liebe in groben Zügen"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2012. 670 Seiten.
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