Sybil Gräfin Schönfeldt: "Zu Tisch, zu Tisch!"

Eine literarisch-kulinarische Reise durch das 20. Jahrhundert


Eine Lese-Wanderung durch die deutschen Küchen

"Zu Tisch, zu Tisch!" ruft Sybil Gräfin Schönfeldt und bittet zu einer literarisch-kulinarischen Reise durch das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Sie beginnt im Jahre 1910 mit dem kaiserlichen Geburtstagsmenü, zu dem Wilhelm II. ins "Palast Hotel" in Berlin einlud. "Wenn man zur Tafel geht, dann freut es doch einen etwas, daß man eine Prinzessin ist", wie der Schriftsteller Eduard Graf von Keyserling in seiner Erzählung "Fürstinnen" bemerkte. Die Tafel war überreichlich und die Auswahl groß. So konnte man beispielsweise als Vorspeise Saibling blau mit Holländischer Sauce wählen, gefolgt von Rinderbrust auf Schlossherrinnen-Art und Hammelrücken auf deutsche Art, beides mit Madeirasauce, worauf als Zwischengericht Straßburger Gänseleberpastete anstand und als Dessert eine Eisbombe. Die großbürgerliche Küche, wie sie Thomas Mann in den "Buddenbrooks" beschrieb, verzichtete auf die Tricks der fürstlichen Kochkunst, zelebrierte aber die Qualität von Fisch, Fleisch und Gemüse. Fürstlich und bürgerlich, das waren die prägenden Elemente deutscher Kochkunst und Gastlichkeit zu Beginn des Jahrhunderts. Ob und was davon überdauerte, über alle Katastrophen hinweg, was sich änderte, was dazu kam, was verschwand, all das soll in einer kulinarisch-literarischen Lesereise beleuchtet werden.

Versprochen wird eine kulinarische Rundreise durch das 20. Jahrhundert in Deutschland, die Soziologie, Literatur und Kochkunst vereint und auf eine fast sinnliche Art Kulturgeschichte erzählbar und erfahrbar macht. Auch wenn die Idee, die Kulturgeschichte des Essens mit Hilfe von literarischen Zeugnissen aufzubereiten und mit ausgesuchten Rezepten zu dokumentieren, nicht neu ist, so schafft sie doch immer wieder eine neue Aussicht auf ein ungehemmtes Lese- und Schmökervergnügen. Die Möglichkeiten, die Geschichte und Literatur bieten, sind mehr als reichlich und allesamt spannend. Über Kaiserbälle und Kriegswinter lässt sich mit Erich Maria Remarque debattieren, für Spargelauflauf und grüne Heringe wird Alfred Döblin zitiert, die Eintopfküche der 1930er-Jahre kann mit Hans Fallada studiert werden, die Suppen und Bomben des 2. Weltkrieges und "Carepakete" der Nachkriegszeit lassen sich mit Heinrich Böll und Carl Zuckmayer garnieren. Zum Abschluss des Jahrhunderts stehen für Siegfried Lenz und Walter Kempowski Picknick und Quarkkeulchen bereit.

Sybil Gräfin Schönfeldt ist eine versierte Erzählerin und exzellente Kennerin der (deutschen) Geschichte des Essens. Sie verfasste so unterschiedliche literarische Kochbücher wie jene zu Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann, Theodor Fontane und Astrid Lindgren. Und jedes Mal gelang es ihr auf wunderbare Art, das uns jeweils ferne Alltagsleben wieder aufleben zu lassen, Genuss nachvollziehbar zu machen und ihre Leser zu inspirieren. Den gleichen kulinarischen und literarischen Hochgenuss verspricht auch dieses Buch. Es ist auf die gleiche Art gestaltet, liebevoll und formvollendet, und das Inhaltsverzeichnis ist einfach verlockend. Der Zauber will sich aber dennoch nicht einstellen. Die angekündigte literarisch-kulinarische Reise ähnelt dann auch bald mehr einem sonntäglichen Pflichtspaziergang, der sich immer weiter von einer Geschichte des Essens entfernt und bei einer Geschichte der Küchentechnologie und Nahrungsmittelindustrie landet.

Unermüdlich, Jahrzehnt für Jahrzehnt, führt Schönfeldt ihre Leser durch diese deutsche Küchengeschichte. Von der herrschaftlichen Großküche zur kleinbürgerlichen Kleinküche, vom Kohleherd zum elektrischen Herd, von der Vorratshaltung zu Fertigprodukten. Vieles ist interessant, aber es ist Trockenfutter, und je näher die Gegenwart rückt bzw. das eigene Erinnerungsvermögen angesprochen wird, als umso mängelbehafteter wird die Reise wahrgenommen. Dem Bericht über kaiserliche Tischsitten und Essensgewohnheiten zu misstrauen, hat man zuerst einmal keinen Grund. Alles klingt plausibel, interessant und spannend. Aber dass in den 1968er-Wohngemeinschaften prinzipiell mit Händen gegessen wurde, das erfüllt mich doch mit Staunen. Also, ich meine mich zu erinnern, dass Gabeln doch sehr weit verbreitet waren. Zumindest in Österreich. Welche persönlichen Erfahrungen die Autorin auch immer gemacht hat, es fällt zunehmend auf, dass sie Einzelbefunde für das Ganze ausgibt. Wer sich mit der Nachkriegsgeschichte befasst hat und wer auch seine eigene familiäre Alltagsgeschichte im Kopf hat, der weiß, wie langsam sich für die breite Masse die Modernisierung von Küche, Essen und Alltag durchgesetzt hat. Und der staunt nicht schlecht, dass in den deutschen 1960er-Jahren Atriumhäuser "hoch beliebt" und dass "Bottleparties" en vogue waren. Pommes, Ketchup und Spaghetti bleiben dabei auf der Strecke.

Was bleibt von einem Jahrhundert deutscher Esskultur und Essgewohnheiten? Die kaiserlich-fürstliche Küche ist passé, die neue Küchenkunst heißt Molekularküche, und die deutschen Fernsehköche braten Entenbrust und Jakobsmuscheln "auf den Punkt". "Essen und Trinken ist Nahrung und Leben, Verlockung und Vergnügen", schreibt Schönfeldt im Vorwort. Leider sind diesmal die Freuden an Verlockung und Vergnügen unsichtbar geblieben.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 12/2010)


Sybil Gräfin Schönfeldt: "Zu Tisch, zu Tisch!
Eine literarisch-kulinarische Reise durch das 20. Jahrhundert"

Arche Paradies, 2010. 272 Seiten, mit 20 Rezepten und 20 Fotos.
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