Adolf Muschg: "Sax"
Eine literarische Geisterbeschwörung
Adolf Muschg bittet zur Geisterstunde. "Mit Figuren wie von
Fellini und
einer labyrinthischen Architektur bereitet 'Sax' ein aufregendes,
mitunter abgründiges
Leseerlebnis. Spannend, hoch erotisch und visionär: eine
literarische
Geisterbeschwörung." So die Kurzinformation des
Verlages über Adolf
Muschgs Roman. Doch das Buch erfüllt nur partiell, was der
Klappentext
verspricht. Vor allem das Labyrinthische ist es, von dem der Text
beherrscht
wird, ein schwer zu entwirrendes Gespinst von
Handlungssträngen stellt sich da
dem Verständnis des Lesers entgegen. Stehvermögen und
eine nie nachlassende
Aufmerksamkeit ist selbst vom geübten Leser gefordert, will er
dieses Labyrinth
bis an sein Ende erfolgreich durchforsten. Mehrmaliges Lesen scheint da
in jedem
Fall angebracht, und selbst dann wird einem vermutlich noch so einiges
entgangen
sein.
Adolf Muschg macht es seinen Lesern nicht leicht, und nicht selten
stößt er
die Nase des Lesers auf eine Fährte, um sie ihm gleich darauf
schon wieder zu
entziehen, ein Verwirrspiel par excellence. Der Vergleich mit den
Romanen von
Leo
Perutz drängt sich auf, nur lässt sich -
anders
als bei Perutz - ein
Ordnungsprinzip nur schwer ausmachen, das ein wenig Übersicht
in das Ganze
bringen würde. Adolf Muschg verknüpft vielmehr
Realismus und
Esoterisch-Mystisches
zu einem sperrigen, monströsen Knoten,
der das Verständnis
des Lesers abzunabeln droht. Zudem finden sich ständige
Abbrüche, Neueinsätze
und Risse in der Handlung, die vom Autor nur unzureichend verfugt
wurden. Wie
ein Floh hüpft er bisweilen von einem Protagonisten zum
anderen, von einer
Szene zur nächsten. Sein Werk entwickelt dabei mitunter einen
Eigensinn, der
jedwede Zuordnung erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Unter
Geistergeschichte,
Science Fiction, Satire, Groteske,
Gesellschaftsroman und anderen
Kategorien könnte man das Werk subsumieren. Oftmals hatte ich
den Eindruck,
dass es die vornehmliche Intention des Autors war, große
Kunst zu schaffen und
weniger, seine Leser zu unterhalten. Da aber der Rezensent in erster
Linie dem
Leser verpflichtet ist, darf der Hinweis nicht fehlen, dass die
Spannung doch
arg unter diesem literarischen Pointillismus leidet. Das
Abgründige und Visionäre
mag man dem Roman allerdings nicht absprechen, das Buch hat
tatsächlich etwas
von großer Literatur, und Adolf Muschg schreibt auf einem
hohen literarischen
Niveau, das steht für mich außer Frage.
Ein Gespräch zwischen einem Briefmarkenhändler und
einem Bankier über ein
Spukphänomen in einem jahrhundertealten schweizerischen
Bürgerhaus, genannt
"Zum Eisernen Zeit", markiert den Anfang dieser verwuselten
Geschichte. Die beiden Herren fassen den Entschluss, das alte
Gemäuer an drei
junge Rechtsanwälte zu vermieten, die dem Spuk - nicht zuletzt
dank ihrer
modernen Lebensauffassung - ein Ende bereiten sollen. Doch die
Gespenster einer
unseligen, noch nicht bewältigten Vergangenheit, allen voran
Philipp von
Hohensax (Kürzel: Sax), lassen sich nicht bannen und sorgen
alsbald für ein
heilloses Durcheinander, für Tod, Verwirrung und Chaos. Die
Geschichte mündet
dann am Ende in eine Vision des Schreckens, sie endet in der Zukunft,
im Jahr
2012.
Fazit:
Ein schwieriger Lesestoff, doch Langeweile kommt eigentlich nie auf,
einmal
abgesehen von wenigen Absätzen, wo die verwandtschaftlichen
und historisch
gewachsenen Beziehungen einiger Protagonisten zu breit ausgewalzt
werden. Trotz
der hier vorgebrachten Einwände und Bedenken ist das Buch aber
eine klare
Empfehlung, denn Adolf Muschg hat neben der in "Sax" erzählten
Geschichte noch weit mehr zu bieten, unter Anderem auch
tiefschürfende Gedanken
über viele der großen Menschheitsprobleme.
(Werner Fletcher; 10/2010)
Adolf Muschg: "Sax"
C.H. Beck, 2010. 464 Seiten.
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Adolf
Muschg, geboren am 13. Mai 1934 in Zürich, war u. A. von 1970
bis 1999 Professor für deutsche
Sprache und Literatur
an der ETH Zürich und von 2003 bis 2006 Präsident
der Akademie der Künste in
Berlin.
Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane "Im Sommer des Hasen"
(1965), "Albissers Grund" (1974), "Das Licht und der
Schlüssel" (1984), "Der Rote Ritter"(1993), "Sutters Glück" (2001),
"Eikan, du bist spät" (2005) und "Kinderhochzeit" (2008),
wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. A. mit dem
"Hermann-Hesse-Preis", dem "Georg-Büchner-Preis" und dem "Grimmelshausen-Preis".
Unter dem Titel "Wenn es ein Glück ist" erschienen 2008 seine
Liebesgeschichten aus vier Jahrzehnten. Seine essayistischen Werke
beschäftigen
sich u. A. mit "Literatur als Therapie?", Gottfried Keller, Goethe
und Japan. 2005 erschienen im Verlag C.H.Beck Muschgs Reden "Was ist europäisch?".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Kinderhochzeit"
"Das Böse in Nieburg, ich möchte wissen, wo es herkam und wie man ihm
widersteht."
Klaus Marbach und seine Frau, die Juristin Manon de Montmollin, haben
sich in der Arbeit am sogenannten Bergier-Bericht über die Schweizer
Neutralitätspolitik
im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Als sie sich trennen, setzt er
seine
Recherche im badischen Nieburg, im Herzen des Bühlerschen
Aluminium-Imperiums,
auf eigene Faust fort: "Das Böse in Nieburg, ich
möchte wissen, wo es
herkam und wie man ihm widersteht." Lange merkt Marbach
nicht, dass er
ausgezogen ist, das Fürchten zu lernen. Denn die Verstrickung
der
Kriegsgeneration und diejenige ihrer Nachkommen wird zu seiner eigenen.
Es ist
Imogen Selber-Weiland, die letzte der Bühler-Dynastie
und Alleinerbin, die
seine Nachforschungen protegiert und sich seiner Fantasie zunehmend
bemächtigt.
Bald gerät Marbach auch auf die Spur ihrer ehelichen
Verbindung mit dem auf
geheimnisvolle Weise abwesenden genialischen Schriftsteller Iring
Selber. Von
einer Grenzüberschreitung zur nächsten führt
Marbachs Passion zu dieser älteren
Frau ihn schließlich zu den Quellen seiner Existenz und ins
Labyrinth einer unvergangenen Geschichte.
Adolf Muschg hat eine Liebesgeschichte geschrieben von kühner
Offenheit und zugleich eine Geschichte des europäischen Bewusstseins. (Suhrkamp)
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"Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil"
Adolf Muschg geht im Rahmen der "Krupp-Vorlesungen" zu Politik und
Geschichte der schwierigen Frage nach, was eigentlich
"europäisch" an Europa und den Europäern ist.
Adolf Muschg betreibt hier keine europäische Wesenssuche, aber
er weicht auch
nicht der Frage aus, ob es eine Substanz des Europäischen
überhaupt gibt und
wenn ja, wie sie beschaffen ist. Seine Antwort: Europa ist kein
bloßer
Wirtschaftsraum, eine expandierende Freihandelszone, sondern es
entscheidet sich
als kulturelle Frage.
Wofür und wogegen sich Europa bildet, ist keine nur
pragmatische Angelegenheit,
sondern eine der gemeinschaftsbildenden Glaubwürdigkeit.
Europa, so Muschg,
wird seine Differenz zu einem ökonomisch dominierten
Verständnis von "Globalisierung"
entwickeln und behaupten müssen, wenn es seiner eigenen
Geschichte und ihren
Lektionen treu bleiben will. Wie eine solche europäische
Identität im
Spannungsfeld zwischen föderalistischem Pragmatismus und
kosmopolitischer
Utopie aussehen könnte, das erkundet Muschg in diesem
höchst anregenden Buch. (C.H. Beck)
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"Wenn
es ein Glück ist. Liebesgeschichten aus vier Jahrzehnten"
"Damit begann doch eine Geschichte, und wenn sie euch etwa
bekannt
vorkommen sollte, täuscht ihr euch sehr. Denn für die
Beteiligten war sie neu
und unerhört, und andere als Beteiligte hat sie nicht
nötig." Niemand
aber bleibt ein unbeteiligter Zuschauer, der sich auf Adolf Muschgs
unerhörte
Geschichten von der Liebe einlässt: Dieser Meister der
erotischen Erzählung
versteht es wie kaum ein zweiter, in geradlinig erzählten so
gut wie in kunstvoll verwickelten Geschichten dem liebsten Gefühl des
Menschen immer
andere und meist nur scheinbar vertraute Nuancen abzulauschen.
Liebesgeschichten sind ein Genre, dem Adolf Muschg sich
länger vierzig Jahre
stets aufs Neue gestellt hat. Dem Raum und der Zeit nach kennen sie
keine Grenzen. Sie spielen im neuseeländischen Hügelland
ebenso wie auf einer
Latifundie in Argentinien. Sie ereignen sich vor dem Hintergrund eines
Schweizer Bergdorfs und in den anonymeren Gefilden einer
zeitgenössischen Großstadt. Es
sind Geschichten mit dem denkbar breitesten Spektrum. Es geht um die
Liebe zwischen Mann und Frau, um Freundes-, Kindesliebe und Inzest, und immer
wieder: um die Liebe in ihrer vertracktesten oder gar deformierten Gestalt, um
Schuld, Ohnmacht, Scheitern, Revolte, Gewalt.
Gefasst im expressiven Ton des
leidenschaftlich Beteiligten oder niedergeschrieben mit der
Sachlichkeit eines Protokollanten.
Die vorliegende Auswahl seiner Liebesgeschichten wurde vom Autor selbst
getroffen. Sie versammelt das, was ihm als gültig erscheint
aus vier Jahrzehnten. Ein großer Stoff und eine fesselnde Lektüre. (Suhrkamp)
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"Heimkehr nach Fukushima"
zur Rezension ...
Noch ein Buchtipp:
Manfred Dierks: "Adolf Muschg.
Lebensrettende Phantasie. Ein biographisches Porträt"
Adolf Muschg, 1934 geboren, ist in einer kleinen Lehrerwohnung an der Zürcher
Goldküste aufgewachsen, unter reichen Leuten. Der Vater, strenger Pietist, kennt
nur eine Autorität, unter die er seine gesamte Familie zwingt: die reformierte
Bibel. Nach seinem Tod lebt die sehr viel jüngere, depressive Mutter mit ihrem
Sohn in enger Symbiose. Der Junge hat eine Rettungsfantasie, die ihm hilft,
durchzustehen: Schriftsteller werden. Zunächst aber wird er Lehrer am Gymnasium
in Zürich, dann Lektor in Japan, später Professor an der ETH in Zürich. Da ist
aber, nach Kritiken und Essays, auch sein Debütroman erschienen: "Im Sommer des
Hasen". Heute ist Muschg einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller,
ein europäischer Intellektueller und mit seinem erzählerischen und
essayistischen Werk immer präsent. Das biografische Porträt von Manfred Dierks
charakterisiert Muschgs Werk und beschreibt wichtige Stationen seines Lebens. Im
Hintergrund steht immer die Zeitgeschichte und wie Muschg sie deutet. (C.H. Beck)
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